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…und was wir von Rosa Luxemburg darüber lernen können
Rosa Luxemburg auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart, 1907.
Michael Löwy ist Soziologe und Philosoph sowie emeritierter Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Dozent an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Seine Schwerpunkte sind soziale Bewegungen in Lateinamerika und Marxismus. Dieser Artikel erschien zuerst in «LuXemburg» 3/2018. Aus dem Englischen von Britta Grell.
Unter marxistischen Vordenker*innen gibt es nur wenige, die sich einer internationalistischen Agenda des Sozialismus so sehr verpflichtet fühlten wie Rosa Luxemburg. Sie war jüdisch, polnisch und deutsch, aber ihr einziges „Mutterland“ war die Sozialistische Internationale. Dennoch verleitete ihr radikaler Internationalismus sie auch zu fragwürdigen Positionen in der nationalen Frage. Was ihr Geburtsland Polen angeht, stellte sie sich zum Beispiel nicht nur gegen die von den „Sozialpatrioten“ der Polnischen Sozialistischen Partei von Piłsudski erhobene Forderung nach nationaler Unabhängigkeit, sondern lehnte auch die Unterstützung eines polnischen Rechtes auf Selbstbestimmung (und auf Abspaltung von Russland) ab. Bis 1914 begründete sie diese Haltung vor allem „ökonomistisch“: Polens Wirtschaft sei gut in die russische integriert, die Unabhängigkeit eine rein utopische Forderung von reaktionären aristokratischen und kleinbürgerlichen Schichten. Für sie waren Nationen im Wesentlichen „kulturelle“ Phänomene, weshalb sie „kulturelle Autonomie“ als die angemessene Antwort auf nationalistische Bestrebungen ansah. Was in ihrem Ansatz gar nicht vorkommt, ist jedoch die politische Dimension der nationalen Frage, die Lenin hervorgehoben hat: das demokratische Recht der Völker auf Selbstbestimmung.
Zumindest in einem ihrer Texte nähert sich Luxemburg dem Problem jedoch in viel offenerer und dialektischer Weise: in der Einleitung der 1905 erschienenen Aufsatzsammlung „Internationalismus und Klassenkampf. Die polnischen Schriften“. Darin unterscheidet sie zwischen dem legitimen Recht jeder Nation auf Unabhängigkeit, welches „aus den elementarsten Grundsätzen des Sozialismus entspringt» (1905, 192), und der Frage, ob eine solche Unabhängigkeit erstrebenswert ist – was sie im Fall von Polen verneint. Sie betont zudem, dass die nationale Unterdrückung „die in ihrer Barbarei unerträglichste Unterdrückung“ sei, die „fanatischen, flammenden Aufruhr und Hass“ (ebd., 217) hervorriefe. Einige Jahre später jedoch weist sie in ihren Beobachtungen „Zur russischen Revolution“ (1918) erneut jeden Bezug auf das Recht auf nationale Selbstbestimmung als „hohle kleinbürgerliche Phraseologie“ zurück (1918a, 347).
Die meisten Analysen, die sich mit dem Internationalismus von Luxemburg befassen – auch meine eigenen – konzentrieren sich auf ihre tatsächlich problematischen Thesen zur Nationenfrage. Was dabei zu kurz kommt, sind die positiven Aspekte ihrer Positionen, nämlich ihr außerordentlicher Beitrag zum marxistischen Konzept des proletarischen Internationalismus und ihre hartnäckige Weigerung, nationalistischen und chauvinistischen Ideologien nachzugeben.
„Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“
Georg Lukács hat in seinem Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) dem Marxismus Luxemburgs ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier behauptet er, die „Herrschaft“ der dialektischen Kategorie der Totalität „ist der Träger des revolutionären Prinzips in der Wissenschaft“ (Lukács 1923, 39). Für ihn waren die Schriften von Luxemburg, insbesondere ihr Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“ (1913), ein hervorragendes Beispiel für diesen dialektischen Ansatz. Das Gleiche ließe sich auch über ihren Internationalismus sagen: Sie beurteilte alle sozialen und politischen Fragen vom Standpunkt der Totalität aus, etwa aus der Perspektive der Interessen der internationalen Arbeiterbewegung. Diese dialektische Totalität war keine Abstraktion und kein inhaltsloser Universalismus: Luxemburg war sich sehr wohl im Klaren, dass sich das internationale Proletariat aus einer Vielfalt von Menschen zusammensetzt, deren Kultur, Sprache und Geschichte sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen sich stark unterscheiden. In „Die Akkumulation des Kapitals“ beschreibt sie ausführlich die Zwangsarbeit in Minen und Plantagen in Südafrika, zu denen es in deutschen Fabriken kein Äquivalent gab. Diese Differenzen sind für sie aber kein Hindernis eines gemeinsamen Kampfes. Internationalismus bedeutete für sie – gemäß Marx und Engels’ Aufruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ – die Einheit aller Arbeiter*innen, unabhängig von ihrem Herkunftsland, gegen den gemeinsamen Feind: das kapitalistische System, Imperialismus und imperialistische Kriege.
Darum verweigerte sie auch nachdem sie in die Führungsriege der Sozialdemokratie aufstieg jegliche Konzession an den deutschen Militarismus und die parlamentarische Zustimmung zu Kriegskrediten oder -expeditionen. Dass sich der rechte Flügel der Partei verhandlungsbereit zeigte, prangerte sie öffentlich an: als eine Kapitulation der Sozialdemokratie, die mit dem Verweis auf die in der Rüstung entstehenden „notwendigen Arbeitsplätze“ nicht zu rechtfertigen sei. In seiner brauchbaren, wenn auch etwas akademisch geratenen Luxemburg-Biografie behauptet Peter Nettl völlig zu Unrecht, ihr Widerstand gegen die Haltung der SPD sei eine reine formale „Trockenübung“ gewesen, gespeist von der Überzeugung, eine hohe Arbeitslosigkeit sei gut für den Klassenkampf (Nettl 1969).
Grenzenlose Solidarität
Im Gegensatz zu vielen Sozialist*innen ihrer Zeit vertrat Luxemburg die Prinzipien des Internationalismus nämlich nicht nur, wenn es um Europa ging. Schon früh opponierte sie gegen den Kolonialismus der europäischen Staaten und brachte offen ihre Sympathien für die Kämpfe der kolonisierten Völker zum Ausdruck. Sie richtete sich auch gegen die Kolonialkriege des Deutschen Reiches in Afrika, wie die brutale Unterdrückung des Aufstands der Herero in Südwestafrika 1904. In einer öffentlichen Rede im Juni 1911 sagte sie über die Herero:
„[…] Ihr ›Verbrechen‹ bestand darin, daß sie sich nicht willenlos beutegierigen Industrierittern, weißen Sklavenhaltern überantworten wollten, daß sie ihre Heimat gegen fremde Eindringlinge verteidigten. […] Auch in diesem Kriege haben sich die deutschen Waffen reichlich mit – Ruhm bedeckt. […] Die Männer wurden erschossen, Frauen und Kinder zu Hunderten in die brennende Wüste gejagt […]“ (1913a, 537).
Sie verurteilte die imperialistischen Anmaßungen Deutschlands (gegenüber Frankreich) in Nordafrika – als das Kaiserreich 1911 in der „Marokko-Krise“ Kanonenboote nach Agadir schickte – und deutete den französischen Kolonialismus in Algerien als den Versuch, das bürgerliche Privateigentum gewaltsam gegen den traditionellen arabischen Clan-Kommunismus durchzusetzen. In ihren Vorträgen zur Politischen Ökonomie an der Parteischule der Sozialdemokraten 1907 bis 1908 hob sie die Verbindungen hervor zwischen dem modernen Kommunismus des Industrieproletariats in den entwickelten Ländern und urkommunistischen Kräften und Strukturen, die in den Kolonien Widerstand gegen den Vormarsch imperialer profitgetriebener Dominanz leisteten. In ihrer wichtigsten ökonomischen Analyse «Die Akkumulation des Kapitals» legt sie dar, dass die kapitalistische Akkumulation im globalen Maßstab ein fortwährender Prozess der gewaltsamen Enteignung ist:
„Das Kapital kennt keine andere Lösung der Frage als Gewalt, die eine ständige Methode der Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß ist, nicht bloß bei der Genesis, sondern bis auf den heutigen Tag. Für die primitiven Gesellschaften aber gibt es, da es sich in jedem solchen Falle um Sein oder Nichtsein handelt, kein anderes Verhalten als Widerstand und Kampf auf Tod und Leben, bis zur völligen Erschöpfung oder bis zur Ausrottung. Daher die ständige militärische Besetzung der Kolonien, die Aufstände der Eingeborenen und die Kolonialexpeditionen zu ihrer Niederwerfung als permanente Erscheinungen auf der Tagesordnung des Kolonialregimes.“ (1913b, 319)
Es gab damals nur wenige Sozialist*innen, die nicht nur die kolonialen Kreuzzüge anprangerten, sondern auch den Widerstand der Kolonialisierten unterstützten. Diese Haltung offenbart den wirklich universalen Charakter von Luxemburgs Internationalismus, auch wenn Europa im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand.
Konsequente Kriegsgegnerin
Luxemburg war sich der wachsenden Gefahr eines Krieges in Europa bewusst und wurde nie müde, die Kriegsvorbereitungen der deutschen Regierung anzuklagen. Am 26. September 1913 hielt sie eine Rede in Bockenheim bei Frankfurt, die mit einem furiosen internationalistischen Bekenntnis endete: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen und anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht!“ (Volksstimme vom 27.9.1913). Sie wurde daraufhin wegen «Aufrufs zur öffentlichen Gehorsamsverweigerung» angeklagt. Im Februar 1914 hielt sie im Gerichtssaal eine Verteidigungsrede, in der sie erneut Militarismus und Kriegspolitik angriff und eine Resolution der Ersten Internationale von 1868 zitierte, die im Falle eines Krieges zum Generalstreik aufruft. Die Rede wurde in der sozialistischen Presse abgedruckt und zu einem Klassiker der Antikriegsliteratur (Luxemburg 1914). Man verurteilte Luxemburg zu einem Jahr Gefängnis, aber erst nach Beginn des Krieges, 1915, trauten sich die kaiserlichen Behörden, sie zu verhaften.
Während sich viele Sozialist*innen in Europa zu Beginn des Ersten Weltkrieges zur «Verteidigung des Vaterlandes» hinter ihre Regierungen stellten, organisierte Luxemburg umgehend Widerstand gegen den imperialistischen Krieg. Auch in den ersten Kriegswochen im August 1914 finden sich bei ihr keinerlei Anklänge an den offiziellen «Patriotismus» und dessen aggressive Sprache. Vielmehr entwickelte sie sich zu einer der maßgeblichen Kritiker*innen des Verrats der SPD-Führung an den Grundsätzen des Internationalismus. In seinem Versuch, den „wachsenden Hass» Luxemburgs auf den Kurs der SPD nachzuvollziehen, verweist Nettl auf ein «sehr persönliches Motiv“: „die ewige und kaum unterdrückte Ungeduld und Frustration von Emigranten wie Luxemburg angesichts der Schwerfälligkeit der ›offiziellen‹ Deutschen“ (Nettl 1969, 422). Ich halte diese Art der Erklärung für wenig hilfreich, nicht zuletzt, weil sich die Opposition zum Krieg nicht auf die ausländischen „Emigrant*innen“ beschränkte und auch Persönlichkeiten wie Karl Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin umfasste. Luxemburgs Entrüstung entsprang nicht einer „für Emigrant*innen typischen Ungeduld“ (ebd.), sondern einer lebenslangen internationalistischen Überzeugung.
Nachdem sie wegen ihrer antimilitaristischen und antinationalistischen Propagandatätigkeit mehrfach im Gefängnis gewesen war, hielt Luxemburg an ihrem Standpunkt fest: „Das Vaterland der Proletarier, dessen Verteidigung alles andere untergeordnet werden muß, ist die Sozialistische Internationale.“ (1916a, 47) Die Zweite Internationale sei an dem Einfluss dessen, was sie «Sozialchauvinismus» nennt, zerbrochen. Luxemburg forderte dazu auf, eine Neue Internationale aufzubauen, die von einem klaren Leitgedanken zusammengehalten wird:
„Es gibt keinen Sozialismus außerhalb der internationalen Solidarität des Proletariats, und es gibt keinen Sozialismus außerhalb des Klassenkampfes. Das sozialistische Proletariat kann weder im Frieden noch im Kriege auf Klassenkampf und auf internationale Solidarität verzichten, ohne Selbstmord zu begehen.“ (Ebd., 46)
Das war ohne Frage eine Reaktion auf das heuchlerische Argument von Karl Kautsky, die Internationale sei ein Instrument in Friedenszeiten und tauge nicht für eine Kriegssituation. Luxemburgs persönliche Erklärung in „Die Politik der sozialdemokratischen Minderheit“ ist zudem ein bewegendes Bekenntnis ihrer ethischen und politischen Werte:
„Die Weltverbrüderung der Arbeiter ist mir das Heiligste und Höchste auf Erden, sie ist mein Leitstern, mein Ideal, mein Vaterland; lieber lasse ich mein Leben, als dass ich diesem Ideal untreu würde.“ (1916b, 178).
Warnung vor dem Nationalismus
Rosa Luxemburgs Warnungen vor den verheerenden Folgen des Imperialismus, Nationalismus und Militarismus hatten etwas Prophetisches – nicht im Sinne einer wundersamen Vorhersage der Zukunft, sondern im Sinne der biblischen Propheten Amos und Jesaja, die die Menschen vor bevorstehenden Katastrophen warnen, die es gemeinsam zu verhindern gilt. Luxemburg warnte vor immer neuen Kriegen, solange Imperialismus und Kapitalismus weiterbestünden:
„Der Weltfrieden kann nicht gesichert werden durch utopische oder im Grunde reaktionäre Pläne wie internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten, diplomatische Abmachungen über ‚Abrüstung‘ […], ‚europäische Staatenbündnisse‘, ‚mitteleuropäische Zollvereine‘, nationale Pufferstaaten und dergleichen. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben.“ (1916a, 44f)
Sie erkannte im Nationalismus einen tödlichen Feind für die Arbeiterbewegung und den Nährboden für Militarismus und Krieg: „Die nächste Aufgabe des Sozialismus ist die geistige Befreiung des Proletariats von der Vormundschaft der Bourgeoisie, die sich in dem Einfluß der nationalistischen Ideologie äußert.“ (Ebd., 47). In ihrer Schrift „Fragment über Krieg. Nationale Frage und Revolution“ (1918) sorgt sie sich über den rasanten Aufschwung nationalistischer Bewegungen im letzten Kriegsjahr: „Auf dem nationalistischen Blocksberg ist heute Walpurgisnacht“ (1918b, 368). Diese Bewegungen hatten einen recht unterschiedlichen Charakter: Manche waren Ausdruck einer wenig entwickelten bürgerlichen Klasse (wie auf dem Balkan), andere (wie der italienische Nationalismus) von einer imperialistisch-kolonialen Ausrichtung. In der weltweiten Ausbreitung des Nationalismus zeigte sich Luxemburg zufolge eine Vielfalt an Einzelinteressen, die durch ein gemeinsames Interesse vereint wurden: das seit dem Ereignis der Oktoberrevolution gewachsene Gefühl der Bedrohung durch eine proletarische Weltrevolution. Unter Nationalismus fasste Luxemburg dabei nicht die nationale Kultur oder Identität, sondern eine Ideologie, die der Nation alles andere unterordnet („Deutschland über alles“).
Ihre Warnungen waren äußerst vorausschauend, bedenkt man die Verbrechen, die im 20. Jahrhundert im Namen des Nationalismus, der nationalen Verteidigung oder einer völkischen Lebensraumphilosophie begangen wurden. Auch der Stalinismus war das Ergebnis der nationalistischen Degeneration des sowjetischen Staates, verkörpert in der Doktrin „Sozialismus in einem Land“. Diese Gefahren einer auf Nationalstaatlichkeit basierenden Politik hat Luxemburg früh erkannt: territoriale Konflikte, «ethnische Säuberungen» und die Unterdrückung von Minderheiten. Nur Völkermorde konnte sie damals nicht vorhersehen.
Kompass für eine globalisierte Linke
Welche Bedeutung hat Rosa Luxemburgs Internationalismus für uns heute? Die Bedingungen sind heute sicherlich vollkommen andere als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In zweierlei Hinsicht ist ihre internationalistische Botschaft dennoch relevant, vielleicht relevanter noch als damals.
Im 21. Jahrhundert hat die kapitalistische Globalisierung ein historisch beispielloses Ausmaß erlangt. Sie forciert obszöne Formen der Ungleichheit und hat katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt. Ganze acht Milliardäre und Besitzer multinationaler Konzerne verfügen über ein Vermögen, das dem der ärmsten Hälfte der Menschheit entspricht (Oxfam 2017). Mit Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der Welthandelsorganisation (WTO) und supranationalen Vereinigungen wie den G-7-Staaten hat sich ein Block der herrschenden Klassen herausgebildet, der auf Neoliberalisierung setzt. Fraglos bestehen Widersprüche zwischen verschiedenen imperialistischen Interessen, doch sie eint die Agenda, die verbliebenen Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu zerstören, die öffentliche Daseinsvorsorge abzuschaffen, Gewinne zu privatisieren und Verluste zu vergemeinschaften und die Ausbeutung zu intensivieren. Dieser weltweite Prozess wird von einem Finanzkapital dominiert, das seine Macht mittels der scheinbar neutralen und verdinglichten Mechanismen der Finanzmärkte ausdehnen konnte.
Lokale und nationale Formen des Widerstands gegen diese globale Macht sind notwendig, aber nicht ausreichend. Ein perverses planetarisches System muss auf der planetarischen Ebene überwunden werden. In anderen Worten: Der antikapitalistische Widerstand muss globalisiert werden. Die kommunistischen und sozialistischen Internationalist*innen aus den Tagen Luxemburgs gibt es in dieser Form kaum noch. Es gibt einige regionale Organisationen wie die Partei der Europäischen Linken oder die lateinamerikanische São-Paulo-Konferenz, aber keine entsprechenden internationalen Zusammenschlüsse. Die 1938 von Leo Trotzki gegründete Vierte Internationale ist noch auf vier Kontinenten aktiv, hat aber kaum Einfluss.
Der größte Hoffnungsträger ist noch immer die Bewegung für globale Gerechtigkeit, die eine neue Kultur des Internationalismus aufkeimen ließ. Der Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung formierte sich als eine «Bewegung der Bewegungen», eine lockere Assoziation vielfältiger Akteure, die sich seit 2001 auf den Weltsozialforen vernetzen. Trotzdem der Prozess viele Hoffnungen nicht erfüllen konnte und an Grenzen stößt: Die Annäherung und das regelmäßige Zusammentreffen von Gewerkschafter*innen, Feminist*innen, Umweltaktivist*innen, Arbeiter*innen, Kleinbäuer*innen, Indigenen, Jugendorganisationen, aber auch sozialistischen Gruppen, die gegen die kapitalistische Globalisierung kämpfen, bleiben ein wichtiger Schritt nach vorn. Bislang setzte man vor allem auf den Austausch von Erfahrungen und einzelne gemeinsame Kampagnen, verfolgte aber nicht das Ziel der gemeinsamen Programm- oder Strategieentwicklung.
Luxemburgs Erbe kann für diese Bewegung(en) in mehrfacher Hinsicht lehrreich sein: Sie macht deutlich, dass der Feind nicht nur «Globalisierung» oder «Neoliberalismus» ist, sondern das kapitalistische Weltsystem als Ganzes. Die Alternative zur globalen kapitalistischen Hegemonie kann darum nicht eine Stärkung der «nationalen Souveränität» oder Verteidigung des Nationalen sein, sondern nur ein internationalisierter Widerstand. Die Alternative zum „Empire“ ist nicht eine stärker regulierte oder humanere Form des Kapitalismus, sondern eine neue sozialistische und demokratische Weltzivilisation. Das gilt umso mehr angesichts neuer ökologischer Herausforderungen wie dem Klimawandel, die keine nationalen Grenzen kennen. Sie sind das Resultat einer destruktiven Dynamik des globalisierten Kapitalismus, der auf unbegrenzte Expansion und Wachstum angewiesen ist. Ihnen kann nur global begegnet werden:
Rosa Luxemburgs Warnung vor dem Gift des Nationalismus ist heute notwendiger denn je. Nationalismus und Rassismus sind in verschiedenen «patriotischen», reaktionären und (halb-)faschistischen Varianten weltweit auf dem Vormarsch. Islamophobie, Antisemitismus und ein gegen Roma gerichteter Rassismus wüten oft mithilfe der verdeckten oder offenen Unterstützung von Regierungen. Neofaschistische Parteien und autoritäre Regierungen rufen zum Hass auf Migrant*innen auf. Orbán, Salvini und Trump sind nur die widerlichsten Repräsentanten einer Politik, die Migrant*innen zu Sündenböcken macht und als Bedrohung der eigenen nationalen, ethnischen oder religiösen Identität darstellt. Infolge der immer brutaleren Abschottung der Grenzen Europas sind Tausende von Geflüchteten im Mittelmeer ums Leben gekommen. Man kann in dieser Abschottung und rassistischen Mobilisierung eine neue Form des brutalen Kolonialismus erkennen, den Luxemburg so vehement kritisiert hat. Ihr sozialistischer Internationalismus bleibt ein wertvoller moralischer und politischer Kompass in dieser neuen Konjunktur von Nationalismus und Rassismus. Zum Glück sind marxistische Internationalist*innen nicht die Einzigen, die sich gegen die Welle stemmen: Überall auf der Welt üben Menschen Solidarität mit verfolgten Minderheiten und Migrant*innen. Gewerkschafter*innen, Feminist*innen und andere soziale Bewegungen stecken viel Energie in die Organisierung von Menschen über ethnische und nationale Grenzen hinweg.
Doch ist reaktionärer Fremdenhass heute die einzig existierende Form des Nationalismus? Unverkennbar gibt es noch immer Befreiungsbewegungen, die ein legitimes Recht auf nationale Selbstbestimmung beanspruchen – von dem Luxemburg, wie wir wissen, nicht viel hielt. Dazu gehören etwa die palästinensische und die kurdische Bewegung. Dennoch ist bemerkenswert, dass die wichtigste linksnationalistische Kraft der Kurden, die PKK, die Forderung nach einem eigenen Nationalstaat aufgegeben hat und den starren Fokus auf die Nation inzwischen als restriktiv und repressiv kritisiert. Sie hat sich, beeinflusst vom Anarchismus eines Murray Bookchin, dem Konzept des demokratischen Konföderalismus verschrieben.
Nicht nur die internationalistischen Ideen Luxemburgs, auch die von Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Gramsci, José Carlos Mariátegui, W.E.B. Du Bois, Frantz Fanon und vielen anderen sind zentral, um unsere Realität zu verstehen und zu transformieren. Sie sind unerlässliche Waffen für unsere heutigen Kämpfe. Dabei müssen wir den Marxismus als offene Methode begreifen, die stets in Bewegung ist und mit der wir neue Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit entwickeln.
[1] Rosa Luxemburg, “Unser Kampf um die Macht”, Gesammelte Werke, Berlin: Dietz Verlag, [1911] 1972, p. 537. The German war of annihilation against the Herero people is now widely considered the first genocide of the twentieth century.
[2] Rosa Luxemburg, “Introduction to Political Economy”, Economic Writings I, edited by Peter Hudis, London: Verso, 2014, p. 163.