Mai 23, 2022

Der Klimawandel ist eine Frage der Geschlechtergleichstellung

Silvana Cappuccio

Ohne die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frau lassen sich der Klimawandel und die Gefahr von Umweltkatastrophen nicht bewältigen. Zu diesem Schluss kommt die Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtstellung der Frau (Commission on the Situation of Women, UNCSW66)[i], die in diesem Jahr zu ihrer 66. Sitzung zusammenkam.


Was ist die Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtsstellung der Frau (UNCSW)?

Seit 1947 tagt die Zwischenstaatliche Kommission für die Rechtsstellung der Frau jährlich in New York, in Übereinstimmung mit der UN-Charta und mit dem Ziel, „die Rechtsstellung der Frau ohne Unterschied der Nationalität, Rasse, Sprache oder Religion zu verbessern“[ii]. Daran nehmen nicht nur die Regierungen von 45 Staaten teil, die für vier Jahre im Amt sind, sondern auch ein grosses Netz von Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Gewerkschaften, die die Zivilgesellschaft auf internationaler Ebene vertreten. Die Nichtmitgliedstaaten nehmen an allen Phasen der Debatte und der Verhandlungen teil, wobei sie das Recht haben, das Wort zu ergreifen, aber nicht abzustimmen. NGOs mit Beraterstatus bei den Vereinten Nationen können als Beobachter teilnehmen und einen Beitrag leisten. Die Arbeit endet mit der Verabschiedung eines zwischen den Regierungen ausgehandelten Textes, den vereinbarten Schlussfolgerungen. Die UNCSW ist eine der interessantesten Veranstaltungen im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) der Vereinten Nationen, da sie Praktiken, Daten, Bewertungen, Überwachung, Beanstandungen und Überlegungen zu den Rechten der Frauen sammelt. Sie ist daher so etwas wie ein internationaler Gradmesser für die grossen Veränderungen der Geschichte, die die Kernpunkte der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit betreffen. Die Themen, die auf der UNCSW-Traktandenliste stehen, sind von Natur aus „heikel“, da sie bestehende oder potenzielle Bereiche der politischen und wirtschaftlichen Macht von Frauen betreffen. Folglich berühren sie etablierte Interessen im kulturellen, ethischen und religiösen Bereich und können mit diesen in Konflikt geraten – ein häufig anzutreffendes Terrain von Wertvorstellungen, in dem Vorurteile die Verhandlungen behindern.

Umwelt als vorrangiges Thema für die UNCSW 2022

Der Klimawandel ist eine der grössten Herausforderungen für die gegenwärtigen und künftigen Generationen und die Demokratie, da er bestehende Ungleichheiten verschärft und neue verursacht und echte Hindernisse für eine sozial und wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung darstellt. Die derzeitige Sichtweise unterschätzt die unverhältnismässigen Auswirkungen, die Klima und Umwelt auf das Leben von Frauen haben, sowohl individuell als auch innerhalb der Familie und in der Gesellschaft. Und das, obwohl die Sterblichkeitsrate von Frauen aufgrund extremer klimatischer Ereignisse höher ist als die von Männern und daher ein Anliegen sein sollte.

Weltweit nehmen die Treibhausgasemissionen in allen Teilen der Welt[iii] weiter zu. Die Länder leiden unter dramatischen und irreversiblen natürlichen Veränderungen wie dem Verlust der biologischen Vielfalt, extremen Unwettern, Bodendegradation, Wüstenbildung und Entwaldung, Sand- und Staubstürmen, anhaltenden Dürren, dem Anstieg des Meeresspiegels, der Küstenerosion, der Versauerung der Ozeane und dem Rückzug der Gebirgsgletscher. All dies sind Phänomene, die für die Menschheit von enormer Tragweite sind. Für einen grossen Teil der Bevölkerung bedeuten sie gravierende Einbussen in Bezug auf die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Beschäftigung, die Agrar-, Industrie- und Handelssysteme, den Welthandel, die Lieferketten und den Reiseverkehr. Sie wirken der Armutsbekämpfung entgegen, beeinträchtigen den Lebensunterhalt und bedrohen die Nahrungsmittelsicherheit, die Ernährung und den Zugang zu Wasser, insbesondere für die nach Alter, Geschlecht und sozialem Status am meisten gefährdeten Menschen. Mit der Zunahme des Armutsrisikos steigt auch die Gefährdung für Frauen durch Gewalt, da die Lebensbedingungen schwieriger werden und die Anforderungen in den Bereichen Pflege, Haushalt und Betreuung, in denen überwiegend Frauen tätig sind, steigen. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie haben dieses Bild noch verschärft und die bereits bestehenden Lücken bei Löhnen, Renten und Sozialschutz noch vergrössert. 

An der 66. UNCSW haben die Regierungen diese Fragen analysiert und die Vertreter der zivilen Gesellschaft konnten gemeinsam mit den Gewerkschaften ihre Überlegungen und konkreten Forderungen einbringen. Das Dokument mit den abschliessenden Schlussfolgerungen griff einige dieser Forderungen auf und erkannte u.a. an, dass die Führungsrolle von Frauen und Mädchen gefördert werden muss.

Frauen und Mädchen als Schlüsselfiguren für nachhaltige Entwicklung

Frauen und Mädchen spielen zusammen mit indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften eine wesentliche Rolle beim Umweltschutz. Die Staaten können und müssen eine entscheidende Rolle spielen, da sie bei der Ergreifung konkreter Klimaschutzmassnahmen verpflichtet sind, die Menschenrechte, das Recht auf Gesundheit, die Rechte indigener Völker, lokaler Gemeinschaften, von Migranten, Kindern, Menschen mit Behinderungen und in prekären Situationen sowie das Recht auf Entwicklung zu achten und zu fördern. Sie müssen die Gleichstellung der Geschlechter, die Emanzipation der Frau und die Gerechtigkeit zwischen den Generationen fördern. Es liegt auch an den Staaten, die volle und bedeutsame Beteiligung von Frauen an Klimaschutzmassnahmen zu erhöhen und die Mittel zur Erreichung der Ziele konkret zu garantieren.

All dies kann und muss getan werden, denn eine Veränderung des Bestehenden ist möglich. Es gilt „nur“, politische Grundsatzerklärungen in konkrete Handlungen umzusetzen, d.h. konsequent zu sprechen und zu handeln.

Menschenrechte sind universell, unteilbar, voneinander abhängig und miteinander verknüpft

In der aktuellen historischen Phase werden in vielen Ländern immer wieder Attacken auf die Universalität der Rechte verzeichnet, leider auch dort, wo dieser Grundsatz fest verankert schien. Die Einwanderungspolitik vieler Regierungen und die Rechte von Flüchtlingen, Vertriebenen und Asylbewerbern sind traurige Beispiele für grobe Verstösse in diesem Bereich. Es ist daher sehr wichtig, dass in der Abschlusserklärung der CSW ausdrücklich anerkannt wird, dass die Menschenrechte und Grundfreiheiten aller Frauen und Mädchen, die universell, unteilbar, voneinander abhängig und miteinander verbunden sind, für die volle und gleichberechtigte Beteiligung an der Gesellschaft und für die wirtschaftliche Emanzipation der Frauen von entscheidender Bedeutung sind und in alle politischen Massnahmen und Programme einbezogen werden sollten. Dies zeigt einmal mehr, welch treibende und konstruktive Rolle die Zivilgesellschaft in multilateralen Gremien spielt, sofern sie die Möglichkeit zur Teilnahme hat.  Die Anerkennung der Tatsache, dass alle Frauen die gleichen Menschenrechte haben, setzt voraus, dass auf unterschiedliche Situationen, Bedingungen, Bedürfnisse und Prioritäten angemessen reagiert wird und dass einige Frauen mit spezifischen Hindernissen konfrontiert sind, die ihrer Emanzipation entgegenstehen.

Unter den grundlegenden Menschenrechten hat das Recht auf Trinkwasser und Sanitärversorgung Vorrang. Wasserknappheit und Versorgungsausfälle betreffen vor allem Frauen, die lange Strecken zurücklegen oder stundenlang anstehen müssen, um Wasser zu holen. Dies führt dazu, dass sie auf andere wichtige Aktivitäten wie Bildung und Freizeit oder den Lebensunterhalt verzichten. Die Bereitstellung von Wasserversorgungs- und Sanitärdienstleistungen und -infrastrukturen unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten ist daher von entscheidender Bedeutung für die Stärkung der Resilienz aller Frauen.

Vielfältige und sich überschneidende Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung behindern die volle und wirksame Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben. Es sind Massnahmen erforderlich, um sicherzustellen, dass jeder das Recht hat, an der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung teilzuhaben, dazu beizutragen und sie zu voll nutzen, indem die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gefördert werden. Dies sind die Initiativen, die im Anschluss an die Pekinger Erklärung und Aktionsplattform [iv] konkret umgesetzt werden können.


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Die IAO-Agenda für menschenwürdige Arbeit

Das Schlussdokument der CSW ist in der Thematik Arbeit unbefriedigend. Hier hätten die Regierungen über die blosse Forderung nach Umsetzung der Agenda für menschenwürdige Arbeit[v] und der Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit hinausgehen können, um einen gerechten Übergang der Arbeitskräfte und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze im Einklang mit den „national festgelegten“ Entwicklungsprioritäten hin zu einer integrativen, kohlenstoffarmen Entwicklung zu gewährleisten. Der Rückgriff auf nationale Vorgaben vereitelt die Wirksamkeit internationaler Standards und schwächt das Fundament der weltweiten Gültigkeit der Menschenrechte.

Leider wiederholt sich der übliche Widerspruch zwischen Worten und Taten: Einerseits erkennen die Regierungen an, dass Frauen in vielen Situationen die Hauptarbeitskräfte für den Lebensunterhalt stellen, dass sie eine Verantwortung für den Schutz der natürlichen Umwelt und für eine angemessene und nachhaltige Sicherung der Ressourcen innerhalb der Familie und der Gemeinschaft haben, andererseits gehen sie keine konsequenten verbindlichen Verpflichtungen ein, wie der Schutz der Normen und Rechte von Frauen am Arbeitsplatz gewährleistet werden soll.

Gewalt

Alle Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen haben ihre Wurzeln in traditionellen und strukturellen Ungleichheiten und ungleichen Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen. Gewalt ist daher ein grosses Hindernis für die Gleichstellung der Geschlechter und die Emanzipation der Frauen. Die negativen Auswirkungen des Klimawandels erhöhen die Anfälligkeit für Diskriminierung und alle Formen von Gewalt, online und offline, im öffentlichen und privaten Bereich, einschliesslich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, wie sexuelle Belästigung, häusliche Gewalt, geschlechtsspezifische Morde, einschliesslich Frauenmorde, Praktiken wie Kinder-, Früh- und Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Kinder- und Zwangsarbeit, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung und Missbrauch sind weit verbreitet, werden nicht erkannt und nicht gemeldet, insbesondere auf lokaler Ebene. Frauen sind aufgrund von Armut, Behinderung, eingeschränktem Zugang zur Justiz, wirksamen Rechtsmitteln, psychosozialen Diensten, Schutz, Rehabilitation, Wiedereingliederung und Gesundheitsdiensten stärker gefährdet.

Die zunehmende Verbreitung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen im digitalen Umfeld, insbesondere in den sozialen Medien, und das Fehlen von Präventions- und Abhilfemassnahmen unterstreichen die Notwendigkeit von Massnahmen zur Verhütung von und Reaktion auf Online- und Offline-Gewalt und -Belästigung und andere negative Auswirkungen der technologischen Entwicklung. Neu auftretende Formen wie Cyberstalking, Cybermobbing und Verletzungen der Privatsphäre betreffen einen hohen Prozentsatz von Frauen und gefährden ihre Gesundheit, ihr psychologisches und physisches emotionales Wohlbefinden und ihre Sicherheit.

Die UNCSW gestern, heute und morgen

Angesichts der zahlreichen Kriege, die den Frieden und das zivile Zusammenleben in der Welt bedrohen, ist die uneingeschränkte Beteiligung von Frauen an allen Prozessen der Konfliktverhütung und -beilegung sowie der Friedenskonsolidierung als einer der wesentlichen und unverzichtbaren Faktoren für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit, auch im Zusammenhang mit Umweltzerstörung und -katastrophen, heute wichtiger denn je. Es besteht die dringende Notwendigkeit, anhaltende traditionelle und strukturelle Ungleichheiten wie Rassismus, Stigmatisierung und Fremdenfeindlichkeit, ungleiche Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern, diskriminierende Gesetze und Politiken, negative soziale Normen und Geschlechterstereotypen zu beseitigen, um den Zugang zu Ressourcen, universellen Sozialschutzsystemen und öffentlichen Diensten, Bildung, Finanzen, Technologie, Mobilität und anderen Vermögenswerten wie Landbesitz und -kontrolle, Familienerbschaft, natürlichen Ressourcen, geeigneten neuen Technologien und Finanzdienstleistungen wie Mikrofinanzierungen zu fördern.

Die Arbeitsbereiche der UNCSW sind eine Kulturmassnahme für alle, ohne Unterschied, und berühren heikle politische Bereiche, in denen die Verhandlungen in heikle Sphären der kulturellen Zugehörigkeit eindringen, die den entgegengesetzten und gefährlichen Strömungen des ethischen Relativismus (gleichbedeutend mit moralischer Gleichgültigkeit) oder des intoleranten und dogmatischen Fundamentalismus Vorschub leisten können. Als Beweis für den Kulturkampf, der in den Zuständigkeitsbereich der UNCSW fällt, sei daran erinnert, dass bei der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung angenommen wurde – einer der ersten Tests, an dem auch die UNCSW beteiligt war -, selbst innerhalb der UNO ein deutlicher Widerstand gegen die Verwendung einer geschlechtergerechteren und sensibleren Sprache aufkam. Letzteres ist ein Aspekt, der gebührend berücksichtigt werden muss, denn die Sprache ist wahrscheinlich das stärkste Mittel zur Schaffung von Rollen.

Silvana Cappuccio ist eine Expertin für internationale Gewerkschaftspolitik. Sie arbeitet in der Abteilung für internationale Politik der SPI CGIL, ist ordentliches Mitglied der EU-OSHA in Bilbao und hat die drei italienischen Gewerkschaften CGIL CISL UIL in den letzten sieben Jahren bis Juni 2021 in der Gruppe der Arbeitnehmer der IAO vertreten. Sie ist Autorin von zwei Büchern: "Glokers - People, Places and Ideas about Globalised Labour" (Glokers - Menschen, Orte und Ideen zur globalen Arbeit), auf Italienisch, und "Jeans to Die For" (über Silikose in der Jeansproduktionsindustrie), auf Italienisch und Englisch.

[i] https://www.unwomen.org/en/csw/csw66-2022

[ii] Bericht an ECOSOC über die erste Sitzung der Kommission für die Rechtsstellung der Frau, die vom 10. bis 24. Februar 1947 in Lake Success, New York, stattfand: E/281/Rev.1, 25. Februar 1947

[v] Im Jahr 2008 nahm die IAO ihre „Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung“ an, in der sie ihre Schlüsselrolle bei der Verwirklichung von Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit im Kontext der Globalisierung durch die Agenda für menschenwürdige Arbeit hervorhebt. Die Agenda für menschenwürdige Arbeit basiert auf einem integrierten und geschlechtersensiblen Ansatz, der sich auf vier Säulen stützt: produktive und frei gewählte Arbeit, Rechte bei der Arbeit, Sozialschutz und sozialer Dialog.