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Der deutsche Philosoph Axel Honneth hat kürzlich in einem Interview einen der Hauptwidersprüche der heutigen Gesellschaften angesprochen: den Mangel an Demokratie am Arbeitsplatz. Seiner Meinung nach bildet ein Unternehmen eine „Gegenwelt“, die auf Unterwerfung und Autoritarismus beruht, im Zentrum des deliberativen Raums der parlamentarischen Demokratien. Und er war erstaunt, dass sich „niemand über diesen Widerspruch wundert“ (Honneth 2021).
Die Pandemie und die von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung hatten erhebliche Auswirkungen auf diese „Gegenwelt“ und berührten den Kern der kapitalistischen Produktionsorganisation, insbesondere die Entlohnung (und damit die Verteilung des produzierten Reichtums) und die Gesundheit am Arbeitsplatz (und damit die Grenzen der Ausbeutung der Arbeit). Wie der Historiker Frank Snowden so treffend formuliert: „Epidemien sind keine zufälligen Ereignisse, die Gesellschaften unvorhersehbar und unerwartet heimsuchen. Vielmehr produziert jede Gesellschaft ihre eigenen spezifischen Schwachstellen“. Wenn man sie studiert, nimmt man sie als Ausdruck der „Struktur der Gesellschaft, ihres Lebensstandards und ihrer politischen Prioritäten wahr“ (Snowden 2019: 7).
Die Schweizer Arbeitswelt hat ihre „spezifischen Schwachstellen“ in besonders virulenter und schneller Weise. In Einzelfällen waren sie Gegenstand von Mobilisierung von Beschäftigten und gewerkschaftlichen Forderungen. Ihre Analyse ermöglicht es, die Frage nach der Demokratie zu stellen (Honneth) und den Zustand des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zu verstehen (Snowden).
Kämpfe für soziale Rechte angesichts von Wohltätigkeit
Die von der Schweizer Regierung beschlossenen Maßnahmen führten zu einem raschen Anstieg der Zahl der Entlassungen und der Kurzarbeit, von der etwa 40% der Erwerbstätigen betroffen waren. Die Regierung war daher gezwungen, zig Milliarden Franken an staatlichen Hilfen in Form von Kreditgarantien für Unternehmen, RHT und Arbeitslosen- und Verdienstausfallentschädigungen für Selbstständige auszuzahlen.
Allerdings haben nicht alle gleichermaßen von dieser Unterstützung profitiert. Viele Geringverdiener*innen – der großen Mehrheit der RHT-Empfänger*innen – hat der Einkommensverlust in die Armut getrieben (Tillmann u.a., 2021). Aber wichtiger noch: die meisten Sozialversicherungssysteme basieren auf dem Modell eines festen, unbefristeten Arbeitsvertrags, ein Modell, das angesichts der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse nicht mehr ausreicht. Zehntausende Menschen mit atypischen Verträgen oder ohne legalen Status sind daher durch die Maschen gefallen. Einige Beschäftigte nahmen daraufhin die Sozialhilfe in Anspruch und diejenigen, die keinen Zugang dazu hatten, erhielten Lebensmittelkörbe (Bonvin u.a., 2020).
Andere haben den Weg des kollektiven Kampfes gewählt. Insbesondere in Genf fanden ab Mitte März 2020 eine Reihe von gewerkschaftlichen Aktionen statt, an denen prekär Beschäftigte ohne Leistungsanspruch teilnahmen, darunter viele Frauen ohne Papiere aus der Hauswirtschaft, aber auch Scheinselbstständige (Essenslieferant*innen und andere Zeitarbeiter*innen). Die Gleichzeitigkeit dieser Mobilisierungen mit einer Öffentlichkeit, die entdeckt hat, dass es Situationen extremer Prekarität gibt, hat zu paradoxen Diskursen geführt. Einerseits wurde eine Vielzahl privater Initiativen gestartet, um die Nahrungsmittelkrise zu lindern. Mit diesen Maßnahmen, die nach Didier Fassin (2010: 3) „eher auf Humanität und Mitgefühl als auf sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit beruhten“, konnten die Behörden eine strukturelle Auseinandersetzung mit den auf dem lokalen Arbeitsmarkt entstandenen Schwachstellen vermeiden.
Andererseits haben die kämpfenden prekär Beschäftigten einen Diskurs entwickelt, der auf dem Begriff des Rechts auf ein alternatives Einkommen auf der Grundlage früherer Löhne basiert. In Genf gelang es den Gewerkschaften, eine breite soziale Koalition zu bilden, die von Hilfsorganisationen auf Gegenseitigkeit bis hin zu Arbeitgeberverbänden reichte. Sie schlugen die Einführung einer Entschädigung für prekär Beschäftigte vor, die vom Genfer Parlament verabschiedet und von der Bevölkerung mit 68,8 % der Stimmen gebilligt wurde und bei der keine Diskriminierung „nach Beruf oder Rechtsstatus“ erfolgt (DCS 2020: 12). Mit anderen Worten: Die gewerkschaftlichen Mobilisierungen vom Frühjahr 2020 haben in bemerkenswerter Weise dazu geführt, dass ein neues Recht für prekär Beschäftigte eingeführt wurde, ohne dabei Arbeitnehmer*innen ohne Papiere auszuschließen. Auf nationaler Ebene führte gewerkschaftlicher Druck zur Integration von Zeitarbeiter*innen in das RHT-System, zur Öffnung der Arbeitslosenunterstützung für die im Kulturbereich Beschäftigten und zum 100 % igen Ausgleich von Niedriglöhnen.
Gesundheit am Arbeitsplatz und untätige Gewerkschaften
In der Frage der Gesundheit am Arbeitsplatz waren die Gewerkschaften waren sehr viel weniger aktiv. Allerdings haben mehrere Forschungsstudien ergeben, dass die Virusexposition und Begleiterkrankungen bei Menschen zwischen 20 und 65 Jahren eng mit ihrer beruflichen Tätigkeit zusammenhängen[1]. Die Menschen verbringen einen Großteil ihres Tages in einer (oft geschlossen) Arbeitsumgebung und in ständiger Interaktion mit anderen Kolleg*innen oder Besucher*innen. Durch schlechte Arbeitsbedingungen wird also das Infektionsrisiko erhöht. Dieselben Bevölkerungsgruppen sind häufig auch sozioökonomisch benachteiligt: Sie können sich nicht von der Arbeit freistellen lassen, um sich testen zu lassen, sie lassen sich nicht testen, um keine Einbußen beim Einkommen zu erleiden, usw.
In der Schweiz fehlen jedoch sogar Indikatoren, die sich auf die berufliche Tätigkeit und die Arbeitsplätze der Betroffenen beziehen. Die einzigen verfügbaren Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeigen, dass 8,7 % der Infektionen am Arbeitsplatz stattfanden, an dritter Stelle nach den Kategorien „Familienmitglieder“ und „andere“ (BAG, 2. August 2020). Offensichtlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Mangel an sozio-beruflichen Daten und dem Wunsch der politischen Behörden, die Frage der Arbeit nicht in den Mittelpunkt der COVID-19-Präventionsmaßnahmen zu stellen. Dies würde bedeuten, in die Organisation der Arbeit und des Warenflusses und damit in den zentralen Prozess der kapitalistischen Akkumulation und Rentabilität einzugreifen. Genau das haben die virulenten Kampagnen der Arbeitgeberverbände sorgfältig vermieden, um so lange wie möglich weiter arbeiten zu können.
Sicher, der Staat hat nur am Rande eingegriffen, vor allem aus Angst davor, dass das Gesundheitssystem zusammenbrechen könnte. Gewerkschaftliche Mobilisierungen wie in Norditalien, wo Streiks im März 2020 die Schließung einer Reihe von Fabriken erzwangen, waren jedoch die Ausnahme. In der Schweiz beschränkten sich die Aktionen in den Betrieben auf einige wenige Regionen (Genf, Tessin) und führten dazu, dass ein kleiner Teil der Gewerkschaftsbewegung einen solidarischen Lockdown[2] forderte, um Menscheneben zu retten[3]. Die Gewerkschaftszentralen ihrerseits haben sich entschieden, „bei den epidemiologischen Maßnahmen sehr zurückhaltend zu sein (…), vor allem weil sie nicht über so viel Fachwissen verfügen wie der Bund“ (USS, 2021), aber auch aus Angst vor den mit möglichen Schließungen verbundenen wirtschaftlichen Kosten[4]. Man hätte erwarten können, dass die Gewerkschaftsbewegung Druck auf die Regierung ausüben würde, damit sie zumindest ein Rücktrittsrecht einführt und die Kontrollen der Hygienemaßnahmen verstärkt. Dies gehört jedoch nicht zu ihren Prioritäten.
Somit beschränkten die Bundesbehörden die Maßnahmen des Teil-Lockdowns auf Branchen mit geringer Wertschöpfung und auf Freizeitaktivitäten. Mit anderen Worten: Es wurde den Menschen verboten, ihre Freizeit draußen zu verbringen, aber es gab keine zwingenden Vorschriften für Unternehmen. Erst im Januar 2021, als die zweite Welle der Epidemie die Schweiz an die Spitze der internationalen Sterblichkeitsstatistiken hob, beschloss die Regierung eine Homeoffice-Pflicht (die in der Praxis nicht sehr gut umgesetzt wurde) und einige Präzisierungen bezüglich der Maskenpflicht. Dabei betonte sie, dass „wir nicht das Geld haben, um alle zu retten“ (so Finanzminister Ueli Maurer). Damit schlug die Schweiz einen Weg ein, den Annie Thébaut-Mony als „eine allgemeine Gefährdung der Arbeitnehmer durch den Staat und die Arbeitgeber“ (2021) bezeichnete.
Schlussfolgerungen
Die (Nicht-)Interventionen der Gewerkschaften während der Pandemie zeigen, dass sie in der Lage waren, das Streben nach Gerechtigkeit und Solidarität zu kanalisieren, während sie gleichzeitig ungünstige Machtverhältnisse insgesamt verstärkten. Natürlich ist es einfacher, Milliarden für die Finanzierung des Lohnausfalls aufzutreiben, als die Menschen dazu zu bringen, das Prinzip eines – wenn auch begrenzten – Eingriffs in den Prozess der Kapitalakkumulation im Namen der öffentlichen Gesundheit zu akzeptieren. Der Einkommensschutz kommt nämlich größtenteils den Unternehmen selbst zugute. Direkt, weil die öffentlichen Beihilfen in erster Linie ein Instrument sind, mit dem der Staat die Verpflichtungen der Arbeitgeber ersetzt, und indirekt, weil sie in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen.
Die Schwäche der Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz steht in direktem Zusammenhang mit der kollektiven Abwesenheit der organisierten Arbeitnehmer*innen in den Unternehmen. Die Überwindung dieser historischen Defizite erfordert einen Paradigmenwechsel auf Seiten der zentralen Gewerkschaften. Sie müssen die Gesundheit am Arbeitsplatz als ein hochpolitisches Thema behandeln. Das ist eine demokratische Forderung, die sie in Angriff nehmen sollten.
[1] Unter den wenigen Studien, die in der Schweiz zu diesem Thema durchgeführt wurden, ist die Studie von Stringhini et al. (2021) zu nennen. Für einen Überblick über die internationale Literatur siehe Purkayastha et al.
[2] Siehe insbesondere den Notfallplan der Genfer Aktionsgemeinschaft der Gewerkschaften (CGAS 2020).
[3] Dies wurde durch verschiedene Studien bestätigt: Länder, die die „Null-COVID“-Strategie verfolgt haben, weisen heute eine wesentlich bessere Gesundheits- und Wirtschaftsbilanz auf als Länder wie die Schweiz, die die Jo-Jo-Strategie gewählt haben (Oliu-Barton et al. 2021).
[4] Die Schweizerische Gewerkschaft hat sich gegen eine Sperrung ausgesprochen, „weil die Kosten zu hoch wären“ (SRF, 24. Oktober 2020). Mit einer Staatsverschuldung von 25,8 % des BIP und der Möglichkeit, Ausgaben zu Negativzinsen zu finanzieren, hätte die Schweiz jedoch über genügend Mittel verfügt, um einen Einkommensverlust für die arbeitende Bevölkerung zu finanzieren (Dittli 2020).
Alessandro Pelizzari, Hochschule für soziale Arbeit und Gesundheit Lausanne (HETSL | HES-SO)