Januar 25, 2021

„Great Reset”: Das Weltwirtschaftsforum recycelt seine alten Rezepte

Frédéric Lemaire

Vom 25. bis zum 29. Januar 2021 veranstaltet das Weltwirtschaftsforum eine Woche lang Onlinetreffen und -debatten: die „Davoser Agenda[1]. Mit dieser Veranstaltung startet die „Great Reset“-Initiative, ein Programm, das ein neues Paradigma öffentlicher Politik für die Zeit nach der Corona-Krise entwickeln soll. Laut deren Initiatoren handelt es sich dabei um nichts anderes als ein „Auf Null Stellen des Kapitalismus“: eine Neuordnung der Prioritäten von Wirtschaft und Regierungen, um eine „gerechte“, „nachhaltige“ und „widerstandsfähige“[2] Entwicklung zu fördern. Doch jenseits der großen Reden ähnelt diese Agenda für die „Welt danach“ vor allem einer Aktualisierung derselben Grundsätze, die das Weltwirtschaftsforum schon seit Jahrzehnten fördert.

Von Frédéric Lemaire, Journalist, Wirtschaftswissenschaftler, Mitglied von Attac Frankreich, Mitautor von Cette crise qui n’en finit pas (Les Liens qui Libèrent, 2017).


Die größte Natureisbahn Europas auf dem Davos Platz (18.000 Quadratmeter) in den 1970er Jahren © CC

Das 1971 gegründete Weltwirtschaftsforum organisiert jedes Jahr ein Gipfeltreffen – auch als „Davoser Forum“ bekannt – bei dem sich Wirtschaftsführer*innen, Politiker*innen, NGO-Vertreter*innen, Journalist*innen und Akademiker*innen aus der ganzen Welt treffen. Das erklärte Ziel: die Debatte über die großen globalen Themen voranzutreiben:  Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Klima, Zugang zu Wasser – beizutragen, insbesondere durch die Förderung Förderung „marktbasierter Lösungen“ („market-based solutions[3]).

Die marktfreundliche Agenda des Davoser Forums und sein Einfluss auf die Weltbühne stehen seit langem in der Kritik. Um seinem Image als „Klub der Reichen“ zu entkommen und auf die globalen Herausforderungen von heute zu reagieren, hat das Forum nach und nach seinen Diskurs angepasst und neue Themen aufgenommen. So wurde der Davos-Gipfel 2017 unter das Dach der „soziale Inklusion und menschliche Entwicklung“ gestellt. Im Januar 2020 stand dann der Klimanotstand auf der Tagesordnung. Doch hinter dieser sozialen und ökologischen Fassade scheint die Logik des Forums offenbar dieselbe zu bleiben: die Förderung der Mobilisierung des Privatsektors und von Marktlösungen.

Das „Great Reset“-Programm veranschaulicht dies perfekt. Diese Initiative wird im Mittelpunkt der Onlinetreffen und -debatten der Davoser Agenda stehen, die in diesem Jahr – coronabedingt – den üblichen Gipfel ersetzen werden. Auf den ersten Blick ein ehrgeiziges Programm, denn es zielt auf nicht mehr und nicht weniger ab, als die Chance der Covid-Krise zu nutzen, um „alle Aspekte unserer Gesellschaften und Volkswirtschaften neu zu ordnen“, wie es der Gründer des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, formulierte. Dem Davoser „Guru“ zufolge muss jedes Land mitmachen, muss jede Industrie transformiert werden. Konkret ist der wesentliche Inhalt der Vorschläge jedoch nicht leicht zu erkennen, zumindest, wenn man sich an die großen Grundsatzerklärungen hält.  Aus dem Programm der Diskussionstage der Davoser Agenda vom 25. bis 29. Januar geht jedoch hervor, dass sich das „Great Reset“ in fünf „Bereiche“ oder Themen gliedert, die die Debatten der Woche strukturieren werden.

Das erste Thema nennt sich die „Gestaltung kohäsiver, nachhaltiger und widerstandsfähiger Wirtschaftssysteme und wird am ersten Tag besprochen. Hinter dem manageriellen Neusprech vermitteln die Inhalte und die Gäste auf den wichtigsten Panels eine genauere Vorstellung von der „Welt danach“, die von den Organisatoren des Forums gefordert wird.  So scheint die „Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums“ eine der Prioritäten zu sein. Zu den Podiumsteilnehmern gehören mehrere Minister (aus Indonesien, Deutschland und Frankreich), der Gouverneur der Bank of Japan, der Präsident der Europäischen Zentralbank sowie die Chefs von Goldman Sachs und Volkswagen.  Ein weiteres wichtiges Panel wird sich mit den Vorschlägen der Essayistin Hilary Cottam („Anwendung eines neuen Gesellschaftsvertrags“) beschäftigen. In ihren Schriften kritisiert die Autorin Sozialschutzmaßnahmen, die als zu kostspielig und anachronistisch gelten, und fordert eine „Revolutionierung des Wohlfahrtsstaates“ mit mehr Eigeninitiative, neuen Technologien und öffentlich-privaten Partnerschaften[4].

Das zweite Thema trägt den Titel „Verantwortungsvolle Transformation und Wachstum der Industrie vorantreiben. Die Idee ist, dass die Corona-Krise eine Chance sein sollte, die Wirtschaft in eine „gesündere” Richtung neu auszurichten. Zwei wichtige Panels werden der Umsetzung eines „Stakeholder-Kapitalismus“ widmem, einem Konzept, das Klaus Schwab sehr am Herzen liegt. In diesem Modell werden Unternehmen mit gutem Willen aufgefordert, „Umwelt, Soziales und Governance (ESG)” umzusetzen. Auf dem Podium: Larry Fink (BlackRock), die Chefs der Bank of America und des Chemieriesen Solvay, sowie die Geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF). An zwei weiteren Sitzungen zum Thema „Stärkung des Finanz- und Währungssystems” nehmen die Chefs von Axa, Santander, Barclays, JP Morgan, der Gouverneur der Bank von Frankreich und der saudische Finanzminister teil. Solche Panels werfen Fragen über das Ausmaß (oder den Inhalt) der angekündigten „Transformationen” auf…

Der dritte Tag wird sich auf das Thema „Verbesserung des Umgangs mit unseren globalen Gemeingütern konzentrieren. Dieser beschäftigt sich mit ökologischen Themen, durch verschiedene Schattierungen des grünen Kapitalismus. Zu den Referenten in zwei Sitzungen zum Thema „Mobilisierungsmaßnahmen zum Klimawandel” gehören die CEOs von LG Chem, Spezialist für Petrochemie und Batterieproduktion, und vom Ölkonzern Shell. Geplant sind außerdem Panels zu Marktlösungen für eine „Transformation von Ernährungssystemen und Landnutzung”, u.a. mit dem CEO von PepsiCo. Der Tag endet mit einem Gespräch zwischen Bill Gates und den Bankern Mark Carney (jetzt UN-Sonderbeauftragter) und Bill Winters (Standard Chartered) über die „Chance”, die die Kohlenstoffmärkte bieten, auf den Klimawandel einzuwirken.

Das vierte Thema lautet „die Technologien der vierten industriellen Revolution nutzen”. Diese „Revolution” – ein in Davos häufig besprochenes Thema – würde auf dem zunehmenden Einsatz von Technologien der künstlichen Intelligenz beruhen. Zwei Panels befassen sich mit der Notwendigkeit, „die globale Belegschaft zu qualifizieren”, um dem Verlust von Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit diesen neuen Technologien vorzubeugen; als Podiumsteilnehmer fungieren die Leiter der Zeitarbeitsfirmen Adecco und Manpower. Der letzte Tag der Davoser Agenda schließlich ist dem Thema „Globale und regionale Zusammenarbeit vorantreiben” gewidmet. In Wirklichkeit geht es hier vor allem um Handel, genauer gesagt darum, „das internationale Handelssystem zu reparieren”, wenn nicht sogar darum, „den Handel zu vergrünen” oder den „digitalen Handel zu beschleunigen”. Eine weitere Reihe von Panels untersucht, wie der Privatsektor die internationale Zusammenarbeit verbessern könnte („Geopolitik neu ausrichten”).


Demonstration gegen das Weltwirtschaftsforum, Januar 2020 © www.strike-wef.org

Aus diesem kurzen Überblick der Grundzüge der Davoser Agenda, die auch die des „Great Resets” sind, lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ziehen. Die erste ist der starke Kontrast zwischen den großen ergreifenden Reden über die Notwendigkeit, mit der „Welt von früher” zu brechen; und auf der anderen Seite die große Banalität der Lösungen, die debattiert werden. Denn es sind, nicht mehr und nicht weniger, die gleichen Rezepte, die seit Jahrzehnten auf dem Davoser Forum aufgewärmt werden, und die gleichen „Marktlösungen”, die von multinationalen Konzernen für multinationale Konzerne entwickelt werden. Und das in Bereichen, die durchaus vielfältig sind: Bildung, Landwirtschaft, Gesundheitspolitik, aber auch der Kampf gegen den Klimawandel.

Wir können unsere Probleme nicht mit demselben Denken lösen, mit dem wir sie geschaffen haben”, sagte Einstein. „Auch nicht, indem wir uns auf die Verantwortlichen verlassen”, wäre man versucht hinzuzufügen. Doch genau das tut das Weltwirtschaftsforum, das die großen Ölkonzerne einlädt, um über die Klimakrise zu sprechen. Bereits im Januar 2020, prangerte die Umweltaktivistin Payal Parekh die Davoser Maskerade an.

In der gesamten Agenda des „Great Reset” können wir ein spezifisches Bestreben erkennen: das der Umsetzung der von Naomi Klein analysierten „Schockdoktrin”. Und wie man die Corona-Krise ausnutzt, um die uralte inegalitäre und marktfreundliche Agenda des Davos-Forums voranzutreiben, die für diesen Anlass eilig umgestaltet wurde. Aber es ist nicht sicher, dass die Illusion in einem Kontext von beispiellosem Misstrauen funktioniert, in dem gesundheitliche, ökologische und soziale Krisen kumuliert sind.

Ein Umdenken in der Weltwirtschaft, Post-Covid, ist sicherlich wünschenswert und notwendig.  Aber das erfordert ein wirklich bahnbrechendes Programm. Dies beginnt damit, die Hegemonie des Privatsektors in Frage zu stellen sowie starke und ambitionierte öffentliche Maßnahmen unter demokratischer Kontrolle zu ermöglichen. Es geht darum, sich gegen das Dogma des Freihandels für eine echte Neuausrichtung und Verlagerung der Wirtschaft in den Dienst der Bevölkerung einzusetzen. Aber davon wird man auf dem Davoser Forum nichts hören…


[1] Der jährliche Gipfel des Weltwirtschaftsforums (auch „Davoser Forum“) wurde seinerseits verschoben und ist in Form eines „Sondertreffens“ in Singapur vom 25. bis 28. Mai angekündigt.

[2] Lesen sie dazu den Artikel (auf English) von Klaus Schwab: „Now ist the time for a ‚great reset'“ (03/06/20) auf der Internetseite des Weltwirtschaftsforums.

[3] Das Weltwirtschaftsforum bringt beispielsweise Marklösungen in so vielfältigen Bereichen, wie der ökologischen Krise, humanitären Krisen und der Nahrungsmittelkrise hervor.

[4] Siehe dazu den Vortrag von Hilary Cottam – ein regelmäßiger Gast des Davos Forums – bei dem 2019 Gipfel.


Übersetzung: Annick Bonnefon