April 15, 2021

Ruth Dreifuss, erste Präsidentin der Schweiz

Isabelle Gattiker

In gerader Linie die Nordwand hinauf


1993. Es scheint schon so lange her zu sein….und doch so nah. Ich bin 15 Jahre alt, als Ruth Dreifuss in den Bundesrat gewählt wird. Meine Eltern waren feministisch eingestellt, hatten aber auch einen soliden Sinn für das Praktische. Sie drängten mich, einen nicht zu anspruchsvollen Beruf zu suchen: Karriere machen schien sich kaum unter einen Hut bringen zu lassen mit Heiraten und Kindern, die  – logischerweise  –  kommen würden. Ich mochte keine Kleider und riss immer alles um, was mir in den Weg kam, wie ein ungeschicktes Fohlen. Es hieß an mir sei ein Junge verloren gegangen: ein Rohling, der aber sicher noch auf den richtigen Weg kommen würde.

Und in Büchern und Filmen waren Frauen, die nicht als Ehefrauen, Prostituierte, Aliens oder Sekretärinnen definiert wurden, schlimmstenfalls Cruella, bestenfalls Schößchen-Kleopatra, erhaben, berechnend, grimmig. In der Presse hatten wir die Wahl zwischen Margaret Tatcher, der Unbarmherzigen, und Elizabeth II, der stummen Königin. Nichts, was einen dazu bringen würde, sich in die Arena zu stürzen.


Die am 10. März 1993 neu gewählte Bundesrätin Ruth Dreifuss wird zusammen mit der unterlegenen Erstkandidatin Christiane Brunner von einer jubelnden Menge vor dem Bundeshaus empfangen. Foto: KEYSTONE/Lukas Lehmann

Und plötzlich ist sie auf dem Fernsehbildschirm der Familie zu sehen. Ruth Dreifuss, die vor den Reihen der sitzenden Männer steht, ein Sonnenstrahl auf dem Herzen und die Augen funkelnd vor Intelligenz hinter ihrer riesigen Brille. Als sie den Schwur leistet, kichert sie zweimal. Sie nimmt sich selbst nicht ernst, und doch, wie legitim sie ist. Artikuliert. Zugänglich. Und vor allem eine Führungspersönlichkeit. Ja, ChefIN: das Wort glänzt wie ein neues Geldstück, mit magischen Kräften. Abrakadabra: Chefin! Mit einem Schlag, dank dieser Frau und dank ihrem Lachen, tut sich ein riesiger Himmel auf.

Auf dem Schlachtfeld der Politik ist Ruth Dreifuss, im Angesicht von Achilles, ist Ruth Dreifuss wie Odysseus, der Pazifist, der Fesselnde, der es mit seiner reinen Intelligenz immer wieder schafft, die Hindernisse zu umgehen.  Aber sie ist auch Penelope, die ursprüngliche Penelope, stolz, zäh, die bei den Männern, die ihr drohen oder schmeicheln wollen, nie nachgibt. Eine ganz neue Figur, eine einfache Erscheinung, mit der wir alle uns identifizieren können.

Und das Verrückteste: es hat funktioniert. Mit ihrer ruhigen Kraft hat Ruth Dreifuss den Weg geführt in gerader Linie die Nordwand hinauf, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen. Sie hat gekämpft, und sie kämpft immer noch, mit beeindruckender Effizienz. Sie hat an allen Fronten gekämpft: AIDS-Patienten, Invalidenversicherung, Todesstrafe, Legalisierung von Arbeitern ohne legalen Status, Drogenpolitik. Wenn sie spricht, fesselt sie ihr Publikum, ohne Umschweife, ohne ein Wort zu viel. Und bei alledem ist sie pragmatisch: Als sie von einer humanitären Reise in den Kosovo zurückkommt und das Flugzeug leer ist, bringt sie 20 Flüchtlinge mit. So einfach kann es sein, eine ChefIN zu sein.

Ich bin noch nicht so weit. Ich habe weder ihre Ruhe noch ihre Geduld, und ich habe immer noch zwei linke Hände. Aber ich hoffe, dass man von mir sagen kann, an mir sei eine „Ruth“ verloren gegangen. Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir Tausende von Frauen sind, aufrecht, ruhig und gelassen… und die auch manchmal kichern können. Ohne Angst und mit Freude im Herzen. Ich ziehe den Hut vor ihr.

Seit 2015 ist Isabelle Gattiker General- und Programmdirektorin des International Film Festival and Forum on Human Rights (FIFDH), einer der wichtigsten Veranstaltungen für Kino und Menschenrechte weltweit, deren Schirmherrin Ruth Dreifuss ist. Sie hat auch zahlreiche Dokumentarfilme für Intermezzo Films in Genf produziert und unterrichtete im Masterprogramm für Kino an der ECAL und HEAD. Sie hat zwei Kinder.