August 26, 2021

Die Covid-19-Pandemie & die Neuorientierung des internationalen öffentlichen Gesundheitswesens

Nicoletta Dentico

Wenn wir heute einen Überblick des globalen Gesundheitsszenarios erstellen wollten, müssten wir mit der Erkenntnis anfangen, dass die Gesundheit weiterhin Terrain eines gewaltigen geopolitischen Glücksspiels ist, seit das neue Coronavirus 2020 erschien, um die Welt zu plagen.  Wir wissen es: Vor allem hätte die Pandemie niemals passieren dürfen. Das hat das Unabhängige Panel der WHO für Pandemievorbereitung und –reaktion der internationalen Gemeinschaft in seinem Bericht vom letzten Mai[1] ausdrücklich mitgeteilt. Die Welt hatte sämtliche technischen Kenntnisse und Mittel, um die virale Ausbreitung zu begrenzen und SARS-CoV-2 zu einer geografisch kontrollierten Epidemie zu machen. Das hat sie einfach nicht getan. Die weltweite Gesundheitskatastrophe mit ihren begleitenden sozialen und wirtschaftlichen Krisen ist die Folge des Versagens von Regierungen, die bestehenden Regeln zu befolgen und zusammenzuarbeiten.  


Angesichts dieser historischen Verantwortung bleibt die Unfähigkeit der Mitgliedstaaten zum Zusammenwirken deutlich sichtbar. Es mangelt nicht an multilateralen Gesundheitsmeetings in diesem zweiten Jahr der Pandemie, aber die zunehmende Fragmentierung getrennter Initiativen einerseits und die Impfstoff-Apartheid andererseits verstärken einen entmutigenden Eindruck von Realität: Weltweite Gesundheitssolidarität bleibt eine Fiktion. Mittlerweile wütet COVID-19 weiter, mit den Auswirkungen seiner neuen Varianten. Während diese Zeilen geschrieben werden, ordnet China in Wuhan nach einer ungewöhnlich massiven Serie von COVID-19-Ausbrüchen in der Stadt Massentests an, wo die Krankheit Ende 2019[2] erstmals entdeckt wurde. Infektionen, Klinikeinweisungen und Todesfälle treten in vielen Teilen der Welt auf.

Zweifellos wird das internationale staatliche Gesundheitswesen durch die Pandemie neu gestaltet, mit neuen Formen von Protagonismus und bedeutenden Machtanmaßungen, die sich hinter dem erklärten Wunsch nach Interdependenz und Zusammenarbeit verstecken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), seit Langem vorsätzlich geschwächt und 2020 gefangen in den starken Spannungen zwischen China und den USA, ist durch ihren geostrategischen Ansatz in Bezug auf einen Gesundheitsnotstand noch mehr geschwächt worden. Donald Trumps katastrophale Entscheidung, die einzige öffentliche Institution für internationale Gesundheit zu verlassen, genau in dem Moment, als die USA als Gründungsmitglied der WHO das Epizentrum der weltweiten COVID-19-Verbreitung[3] bildeten,  traf die Welt mit enormer Symbolkraft. Das Zugehörigkeitsgefühl der Mitgliedstaaten zu dieser Institution wird zunehmend brüchiger, weil in Genf keine Präsenzverhandlungen geführt werden und sich die Machtbalance zwischen den geopolitischen Blöcken neu formiert, wobei jeder von ihnen seine neue Führerschaft beansprucht, mit impliziten neokolonialen Agenden. Die Europäische Union hat die Koalition für die Unterstützung der WHO in schweren Zeiten angeführt und das von den USA hinterlassene Vakuum einfach mit neuen Reformvorschlägen und dem Konzept eines neuen Vertrags für die Pandemievorbereitung und –reaktion gefüllt. Die Biden-Administration hat versucht, die internationale Führung durch die USA wiederherzustellen, durch einigermaßen mutige politische Aussagen – zum Beispiel den Vorschlag zur Suspendierung von Patenten für Covid-19-Impfstoffe – aber sein deklamatorischer Modus wird China nicht wehtun; dessen großangelegtes Überlegenheitsspiel ist zeitgebunden und ganz auf Governance fokussiert.

Am stärksten beunruhigt die Tatsache, dass die von der Pandemie und der öffentlichen Desorientierung verursachten Turbulenzen, basierend auf dem Fehlen eines geeigneten multilateralen Ansatzes, zur Rechtfertigung einer neuen Wendung im weltweiten Gesundheitssystem dienen könnten. Dabei ginge es um die Durchsetzung unternehmensfreundlicher Maßnahmen, mit der guten Entschuldigung einer aufpolierten Gesundheitssicherungs-Agenda für den zukünftigen Umgang mit Pandemien. Der kürzlich veröffentlichte Bericht des G20 Unabhängigen Panels für die Finanzierung globaler Gemeinschaftsgüter für die Pandemievorbereitung und –reaktion, mit seinen Empfehlungen für den Aufbau eines globalen Boards und Fonds für Gesundheitsgefahren, ist ein typisches  Beispiel[4]. Wen interessiert es, ob dieser Ansatz möglicherweise eine missverstandene Agenda[5] ist, angesichts der neuen Spannungslinien, mit denen COVID-19 traditionelle Annahmen über die weltweite Gesundheit herausfordert? Wen kümmert es, ob sich neue wichtige Gesundheitsfaktoren einen Weg durch die globale Malaise des Gesundheitssystems gebahnt haben – zum Beispiel weltweite Sorgen über die Artenvielfalt und die Gefahren durch intensive Landwirtschaft, als Triebkraft von Zoonosen; oder die gewaltige Mauer gesundheitlicher Diskriminierung und Ungleichheit, die Gesundheitsinstitutionen und Gesundheitswesen bestimmt?

In vielen Ländern führt die Pandemie zu Unruhen und die Menschen werden wütender über die sozioökonomischen Einschränkungen, mit denen sie konfrontiert werden. Andererseits wird diese Top-down-Agenda in der Mitte der Gesundheitskrise nicht angezweifelt; ihr Hauptweg ist die unvermeidliche, aber problematische Praxis des „Zoom-Multilateralismus“. Das antizipierte Fazit der hybriden 74. Weltgesundheitsversammlung (WHA) im Mai, die unmittelbar nach dem G20 Globalen Weltgesundheitsgipfel in Rom stattfand und auf der wichtige geopolitische Arrangements verhandelt wurden, könnte einige der Lücken in einem multilateralen System beleuchten, das sich schrittweise von seinen ursprünglichen Zielen entfernt.


WHO / Christopher Black WHA74
Exekutivratssaal, WHO-Hauptbüro, Genf

Diese Lücken zeigten sich ziemlich schlagartig während der 74. WHA, als sogar der Diskussionsraum für Mitgliedstaaten auf ein Minimum reduziert wurde. Der Höhepunkt der letzten WHO-Versammlung – abgesehen von der Freigabe von Verhandlungen für einen neuen Pandemievertrag und der Ankündigung einer Sondersitzung im November 2021 für dieses Thema – kommt am besten in dem Event nach der WHA-Mai-Sitzung am 31. Mai zum Ausdruck, als die Leitungen der WHO, des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank (WB) und der Welthandelsorganisation (WTO) gemeinsam einen neuen 50-Milliarden-US-Dollar-Plan ankündigten, mit dem Gesundheitshandel und Finanzen gemeinsam die Pandemie beenden und eine globale wirtschaftliche Erholung sichern sollen.[6] Der Aufruf zum Handeln von dieser ungewöhnlichen Vierergruppe kommt vermeintlich zu einem Zeitpunkt, an dem die Welt vertikal gespalten ist, und zwar zwischen der Wiederaufbaustimmung in den reichen Ländern und „dem Schlimmsten, das die Länder des globalen Südens noch vor sich haben“, prognostiziert vom UN-Generalsekretär auf dem G20 Globalen Gesundheitsgipfel. Offiziell aus einer IWF-Veröffentlichung[7] und den Analysen der Internationalen Handelskammer und der Eurasia Group entnommen, die beide auf die wirtschaftliche Verbesserung durch globales Impfen[8] setzen, fordert die beispiellose Initiative Vorauszahlungsfinanzierung, vorsorgliche Impfstoffspenden und Vorauszahlungs-Vorsorge-Investitionen und –Planungen. Es wird davon ausgegangen, dass das Impfen im Vergleich mit den Billionen, die für nationale Wirtschaftsunterstützungspläne ausgegeben werden, eine bescheidene Investition ist. Die vier Organisationen teilen die gemeinsame Verpflichtung – so ihre Äußerung – für die Erhöhung der notwendigen Finanzierung, den Ausbau der Produktion und die Sicherung der schnellen Beförderung von Vakzinen und Rohstoffen über die Grenzen, um „den Zugang zum Impfstoff dramatisch zu erweitern“, der für den Gesundheitsschutz und die wirtschaftliche Erholung erforderlich ist[9].  

Diese Post-WHA-Ankündigung vom Abend des G7-Meetings (11.-13.Juni) beinhaltet einige verwirrende Implikationen. Neben der engagierten Rhetorik ist es überhaupt nicht erkennbar, wie die neue Architektur in die Praxis umgesetzt werden soll; die gemeinsame Bewegung definiert offiziell die Konturen der IWF-Verwicklung in die Gesundheit, eine ungünstige Neuerung angesichts der bereits überwältigen Rolle der Weltbank in der Gesundheitsfinanzierung[10]. Wer sich mit infektiösen und übertragbaren Krankheiten befasst, weiß genau, dass keine davon ohne Test und Behandlungsstrategie kontrolliert werden konnte. Jede therapeutische Strategie gegen COVID-19, die sich nur auf Impfstoffe konzentriert, wird aus der öffentlichen Gesundheitsperspektive eindeutig scheitern, und dasselbe gilt für die Perspektive der Menschenrechte. Während die Wohlhabenden geimpft werden und sich selbst schützen, werden Millionen marginalisierter Menschen weiter krank und sterben, ohne Zugang zu einem Test, wie wir in vielen Ländern des globalen Südens beobachten können. Da COVID-19 auch weiterhin präsent bleiben wird, muss der Zugang zu gemeinschaftsbasierten Tests schnell ausgebaut werden und die internationale Gemeinschaft muss gedrängt werden, alle potenziellen Barrieren für geistiges Eigentum (IP) unverzüglich zu beseitigen und die Erweiterung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten für effektivere Instrumente zu unterstützen. In der Gesundheitsfinanzierungs- und Handelsausrichtung durch die Leitungen von WHO, IWF, WB und WTO findet man zu diesen Aspekten keinen Beitrag.  

Stattdessen wird die vierteilige Bewegung eindeutig platziert – in der Geopolitik der Gesundheitsereignisse im zweiten Jahr von COVID-19 – um jede ernsthafte diplomatische Bemühung auf den Verhandlungen des TRIPS-Rats in Genf zu konterkarieren oder zu neutralisieren. Dort haben sich mittlerweile seit zehn Monaten multilaterale Diskussionen über den vorgeschlagenen Verzicht auf die geistigen Eigentumsrechte (IPR) entfaltet, um den Zugang zu wissenschaftlichen Kenntnissen auszudehnen und  nationale Produktionskapazitäten für alle möglichen Mittel gegen COVID-19 (Impfstoffe, Diagnoseinstrumente, Therapiemittel und jede Art von Schutz sowie medizinische Geräte) zu erweitern. Diese von Regierungen angetriebene politische Maßnahme, der WTO im Oktober 2020 von Indien und Südafrika vorgelegt, ist in jeder Hinsicht durch das internationale Recht legitimiert – die Möglichkeit des Verzichts ist in Art. IX (4) der Marrakesch-Vereinbarung enthalten, die die WTO konstituiert. Der Vorschlag von Indien und Südafrika, Monopolrechte auszusetzen, hat weltweit immer mehr Zustimmung erfahren. Über 100 WTO-Mitgliedstaaten haben ihn befürwortet, zusammen mit mehreren UN-Agenturen, Handelsexperten, international akkreditierten Wissenschaftszentren sowie Hunderten von Parlamentariern in der Europäischen Union und einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen. Das Problem ist nach dem pandemischen Trauma zu einem symbolischen Kernpunkt des globalen politischen Gleichgewichts geworden. Deshalb ist durchaus anzunehmen, dass das neue internationale öffentliche Gesundheitssystem – und die wenigen Player, die es zurzeit lenken – weiterhin Erklärungen und Initiativen generieren wird, die nur ein einziges Ziel verfolgen: dass der TRIPS-Verzicht nicht realisiert wird. Verschiedene alternative Handels- und Finanzmodelle werden empfohlen, die den Zustand vor COVID bestätigen. Für sie würde mit der zeitweiligen Aufhebung von Monopolregimen als Reaktion auf einen Gesundheitsnotstand ein nicht akzeptabler Präzedenzfall geschaffen – die Anerkennung der inhärenten Dysfunktionalität der globalisierten Wissensökonomie.  Die G20 verkörpert dieses negative Syndrom, in einer konzertierten Aktion mit der Europäischen Kommission: Die Erklärung von Rom, das Ergebnis des globalen Gesundheitsgipfels, ignoriert den Verzichtsgedanken vollkommen[11].

Ob das Treffen der G20-Gesundheitsminister, geplant für den 5. und 6. September in Rom, diesen regressiven Kurs verlassen wird, unter dem Druck der jetzt dominierenden Deltavariante, ist schwer zu sagen. Sicherlich werden die kommenden Monate eine historische Testgrundlage definieren, im Post-COVID-Interregnum. Die Sondersitzung der WHA über den Pandemie-Vertrag und das 12. Ministertreffen der WTO, im nächsten November, werden manifestieren, inwieweit die internationale Gemeinschaft die Lektionen aus der Erfahrung mit COVID-19 ernst nimmt. Derzeit bleibt die weltweite Gesundheitsdemokratie im geopolitischen Spiel um COVID-19 immer mehr auf der Strecke.

Nicoletta Dentico ist Journalistin und Senior Policy Analyst im Bereich globale Gesundheit und Entwicklung. Nach der Leitung von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Italien spielte sie eine aktive Rolle in der MSF-Kampagne zum Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten. Sie arbeitete als Beraterin der Weltgesundheitsorganisation und leitet derzeit das globale Gesundheitsprogramm für die Society for International Development (SID).

[1] https://theindependentpanel.org/.

[2] https://apnews.com/article/health-china-coronavirus-pandemic-wuhan-8fa8edb073629c692ac51772e5e9d775?utm_source=Sailthru&utm_medium=email&utm_campaign=Aug3_MorningWire&utm_term=Morning%20Wire%20Subscribers.

[3] https://www.statnews.com/2020/05/29/trump-us-terminate-who-relationship/

[4] https://www.g20.org/wp-content/uploads/2021/07/G20-HLIP-Report.pdf

[5] https://gh.bmj.com/content/6/6/e006392.

[6] https://www.who.int/news/item/01-06-2021-new-50-billion-health-trade-and-finance-roadmap-to-end-the-pandemic-and-secure-a-global-recovery

[7] https://www.imf.org/en/Publications/Staff-Discussion-Notes/Issues/2021/05/19/A-Proposal-to-End-the-COVID-19-Pandemic-460263?utm_medium=email&utm_source=govdelivery

[8] https://www.who.int/news/item/03-12-2020-global-access-to-covid-19-vaccines-estimated-to-generate-economic-benefits-of-at-least-153-billion-in-2020-21

[9] https://www.washingtonpost.com/opinions/2021/05/31/why-we-are-calling-new-commitment-vaccine-equity-defeating-pandemic/

[10] https://rosalux-geneva.org/the-financialization-of-health/

[11] https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Global_Health_Summit_Rome_Declaration.pdf