April 27, 2022

Ein Multilateralismus der Massen und der Mengen

Amélie Canonne

Die Wiederbelebung der multilateralen Frage als strategische Aufgabe für die linke Politik


Der Multilateralismus ist eine Tatsache, die seit dem 17. Jahrhundert in der Regelung internationaler Angelegenheiten verankert ist. Doch so selbstverständlich er auch sein mag, so schwer ist er zu denken, insbesondere für die progressiven sozialen und politischen Kräfte der Linken, und zwar aufgrund einer Vielzahl von Gründen. Erstens berufen sich fast alle auf den Multilateralismus, von den Verfechtern eines in der internationalen Solidarität verankerten Internationalismus bis hin zu den konservativsten und sogar kriegerischsten Führern, mit einigen Ausnahmen (hauptsächlich Nordkorea).

Zweitens ist die Geschichte des Multilateralismus seit des „Protokolonialismus“ der europäischen Handelsgesellschaften im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert zutiefst „modernistisch“, genährt von einer Vision der Verflechtung zwischen der Expansion des globalen Marktes und dem sozialen und politischen „Fortschritt“.

Darüber hinaus hat sich die institutionelle Form des modernen Multilateralismus nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltet: Es ist die Form der Sieger von 1945, die ein koloniales, ja sogar imperiales Modell der Ausbeutung des Planeten und seiner Bewohner verkörperten und eine technisch-bürokratische Vision des Staates und seiner Beziehung zum Kapital vertraten. Der Staat ist das zentrale Element dieser internationalen Strukturierung, und zwar aufgrund seines Monopols, das er als Akteur, der das Völkerrecht formuliert und beschließt, auch heute noch besitzt.

Schließlich wirft der Multilateralismus „von oben“ offensichtliche Probleme in Bezug auf Fairness und Gerechtigkeit auf, insbesondere aufgrund der Mängel seiner Instrumente zur Umsetzung. Der Sicherheitsrat ist nicht legitim, sein Vetorecht noch weniger. Die Instrumente zur Gewährleistung und zum Schutz der Menschenrechte sind (größtenteils) durch kein wirklich wirksames Rechtsinstrumentarium abgesichert. Gleichzeitig wird die Legitimität des Internationalen Strafgerichtshofs durch zahlreiche südliche Länder in Frage gestellt.

Der Mythos vom goldenen Zeitalter des Multilateralismus

Selbstverständlich gibt es rechts zahlreiche Kritiker des Begriffs Multilateralismus, die sich auf die Feststellung der Kosten-Nutzen-Ineffizienz oder die mangelnde Rechenschaftspflicht (im Sinne von „accountability“) der supra- und transnationalen Akteure berufen. Oftmals verbergen diese Vorwürfe die Sehnsucht nach einer Fantasievorstellung der Souveränität, die sich auf nationale Grenzen beschränkt, welche es in Wirklichkeit seit 500 Jahren nicht mehr gibt oder nie gegeben hat: ein Traum von einseitiger, absoluter Souveränität im Namen der Unveränderlichkeit von Grenzen, deren Labilität die lange Geschichte jedoch zeigt.

Der Aufstieg einer neuen Generation rechtsextremer Führer an der Spitze wichtiger Staaten (z. B. Brasilien, Russland, USA, Indien) im globalen System hat dazu geführt, dass die Kritik der klassischen Konservativen an der Weigerung Donald Trumps, das Pariser Abkommen zu ratifizieren, an Pekings Strategie, sich in internationale Institutionen einzumischen, an Jair Bolsonaros Verstößen gegen das Völkerrecht usw. zugenommen hat. Die „illiberalen“ politischen Entscheidungsträger haben tatsächlich einen viel entspannteren Stil im Umgang mit internationalen Angelegenheiten eingeführt, der sich von den klassischen Repertoires der Diplomatie abhebt. In den europäischen Hauptstädten geht man davon aus, dass bis 2016 alles perfekt war, obwohl die USA bereits seit Jahrzehnten zögerten, bestimmte, ihnen unliebsame UN-Programme zu finanzieren (z. B. zur Unterstützung der Familienplanung und des Rechts auf Abtreibung in den südlichen Ländern), und nie gezögert haben, ihre Beiträge aufzuschieben, wenn sie dadurch Einfluss auf die Entscheidungen über die Interventionen bestimmter UN-Organisationen nehmen konnten.

Diese Neuerfindung eines goldenen multilateralen Zeitalters verweist auf die 1960er und 1970er Jahre, als die „Entwicklungsländer“ mit einem gewissen Zusammenhalt innerhalb des UN-Apparats operierten, und orientiert sich an tatsächlich historischen Errungenschaften, die diese Illusion der universellen Eintracht aufrechterhalten: die Pakte von 1966 über bürgerliche und politische Rechte einerseits und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits oder die Organisation der UN-Umweltkonferenz in Stockholm (1972) sind Beispiele dafür.

In den 1990er Jahren gab es zudem eine Reihe von internationalen Konferenzen, die im Bereich der Menschen- und Sozialrechte viel versprachen, während sich das internationale Umweltrecht im selben Zeitraum in Bezug auf die Grundprinzipien und auf die Normen erheblich weiterentwickelte. Die Zivilgesellschaften der ganzen Welt haben sich vernetzt und konnten durch ihren Widerstand, z. B. bei der Mobilisierung gegen das multilaterale Investitionsabkommen der OECD im Jahr 1998, Einfluss auf die Zukunft der Welt nehmen.

Diese idealisierte Vision des Multilateralismus droht zu verdecken, dass die Kontrolle der Industrieländer über die multilateralen Entscheidungen und Apparate nie nachgelassen hat und dass die großen Fortschritte auf dem Gebiet der Global Governance fast immer unter der Bedingung stattfanden, dass sie die Interessen der industrialisierten Welt nicht bedrohten und sich in die Bewegung der Universalisierung ihrer Werte und Normen einfügten (auch wenn diese in moralischen und politischen Kämpfen geschmiedet wurden, z. B. für die Rechte der Frauen oder die Rechte am Arbeitsplatz). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Achse Trump-Bolsonaro-Putin und Co. gerade deshalb als Risiko wahrgenommen wurde, weil sie diese dysfunktionale Stabilität zu erschüttern drohte. 

Ein linker Kardinalwert, der neu zu erfinden ist

Es gibt auch eine Kritik von links am Multilateralismus, von marxistischen Intellektuellen, aber auch von feministischen oder antirassistischen Theorien, die sich auf unbestreitbar destabilisierende Beobachtungen stützt: zum Beispiel die der objektiven Allianz zwischen einer Reihe internationaler Institutionen (Bürokratie oder Regime) und den Akteuren des Finanzkapitalismus, oder die sexistische Gewalt, die fast immer die Sicherheitsoperationen der Vereinten Nationen (UN) begleitet hat, oder die systematische juristische Immunität, welche die politischen und wirtschaftlichen Verantwortlichen des Nordens auf internationaler Ebene genießen.

Doch der Multilateralismus bleibt ein Kardinalwert der internationalistischen Linken, ohne dass diese unbedingt ehrlich nach seinen Unwägbarkeiten, Ungerechtigkeiten und Misserfolgen fragt. Und ohne dass wir uns bewusst sind, wie neu die Erfahrung der Institutionalisierung der multilateralen Regulierung seit 1919 ist. Nach der 15. Konferenz der Vertragsparteien (COP15) des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) im Jahr 2009 ist darüber hinaus in Kopenhagen eine neue, kreative und einflussreiche Generation von Aktivisten auf den Plan getreten, die von den Aporien der internationalen Verhandlungen enttäuscht ist und nach konkreten, direkt umsetzbaren Lösungen sucht, die in der Bevölkerung und in den Regionen verbreitet werden können, und für die die Entwicklung eines internationalen Berichts eher zu einer Verkümmerung der Vorstellungswelt und der Kapazitäten für Bürgeraktionen führt. 

Eigentlich ist es unvermeidlich, dass Instrumente, die vor sechzig Jahren in einem moralischen, ideologischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Rahmen entwickelt wurden, der in keinerlei Beziehung zu dem steht, was wir erleben, nicht mehr in der Lage sind, Lösungen auf die Probleme von heute zu bieten. Doch ist dies noch weniger der Fall, wenn unsere intellektuelle und politische Familie das Thema nicht aufgreift, obwohl wir in 25 Jahren eine solide internationale Analyse erstellt haben, deren Relevanz die Realität (ökologische, soziale, gesundheitliche Krise usw.) zeigt. Falls erforderlich bestätigen der Ausbruch einer globalen Pandemie und der Krieg auf dem europäischen Kontinent, dass der aus dem Kompromiss von 1945 hervorgegangene Begriff der Sicherheit überholt ist. 


Foto: Mathias P.R. Reding / Unsplash

Mächtige transnationale soziale Dynamiken

Bei der Analyse kann zwischen einem normativen Ansatz, der sich auf internationale Institutionen, Regeln und Normen konzentriert, und einem eher deskriptiven Ansatz unterschieden werden, der die Existenz vielfältiger transnationaler sozialer Dynamiken (im weitesten Sinne) anerkennt, welche zu Veränderungen, Neuzusammensetzungen, neuen Möglichkeiten und Problemen führen. Das zeitgenössische internationale Gefüge ist jedoch nicht in der Lage, diese Dynamiken zu analysieren oder sie so zu regulieren, dass die Rechte der heutigen und zukünftigen Generationen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen bewahrt bleiben.

Nehmen wir nur einige Beispiele, die die Vitalität und Kraft dieser transnationalen sozialen Dynamiken zeigen: Die ersten multilateralen Umweltabkommen stammen aus dem späten 19. Jahrhundert und sind weniger auf zwischenstaatliche Bemühungen zurückzuführen als vielmehr auf die Bemühungen von wissenschaftlichen Gesellschaften und lokalen Wirtschaftsakteuren, die die Risiken der Ausbeutung von Ökosystemen für ihre Tätigkeit erkannt hatten. Die Arbeiterinternationale, die ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, hat ihre Form verändert, sie ist von Debatten und Widersprüchen durchzogen, aber ihre Reichweite und Zweckmäßigkeit wurden nie widerlegt.

In jüngerer Zeit, 2011 (in der arabischen Welt und im Mittelmeerraum oder in den Vereinigten Staaten von Amerika) und 2018-2019 (Sudan, Chile, Algerien, Hongkong, Frankreich …), haben wir erlebt, wie sich mehrere Wellen einer transnationalen sozialen und bürgerlichen Bewegung erhoben, die geteiltes Leid und geteilte Wut offenbarte.

Sie alle, ebenso wie die Bewegungen Black Lives Matter und Me Too, bilden in gewisser Weise einen Multilateralismus „von unten“, der immer kulturelle und soziale Wege findet, aber keine politische Umsetzung erfährt, obwohl fast niemand mehr den dauerhaft globalen Charakter der Unterdrückung und der Krisen, die auf dem Spiel stehen, und der Antworten, die dringend auf sie gefunden werden müssen, leugnet.

Die in den 1990er Jahren entstandenen internationalen Sozialforen haben versucht, sich in dieser Hinsicht als hybride „Zeit-Räume“ zu etablieren, an der Schnittstelle zwischen den großen internationalen Konferenzen (Davos, Versammlungen der Bretton-Woods-Institutionen, Konferenzen der Vereinten Nationen) und den Bürgerbewegungen, als Bühne für die Verstärkung des Wortes der Ausgeschlossenen und Stimmlosen.

Die Teilnahme von Bewegungen und Organisationen an den „Klimagipfeln“ (sowohl bei den Verhandlungen als auch auf der Straße) stellt ein anderes „gemischtes“ Modell dar, dessen Beiträge und Grenzen zu diskutieren sich lohnen würde. Diese Klimagipfel zeigen sowohl die Unzulänglichkeit des Systems in Bezug auf die Beteiligung der Zivilgesellschaft, wie es in den in den 1990er Jahren ausgehandelten internationalen Übereinkommen vorgesehen war (auch wenn sie weniger bekannt sind, sehen die Übereinkommen von Rotterdam (Chemikalien), Basel (Abfall), Stockholm (organische Schadstoffe), das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD) usw. die Beteiligung von NGOs vor, die Experten für das jeweilige Dossier sind), als auch die Chance, die sie den transnationalen Bewegungen eröffnen.

Aber von der Globalisierung der Erfahrungen, des Schaffens und der Proteste in den Jahren 1990-2000 als Antwort auf die finanzielle Form der Globalisierung hat sich die transnationale Organisation der Akteure des Widerstands erschöpft – manchmal auch ertränkt in den digitalen Innovationen, die eine gewisse Illusion von Bürgermacht nähren konnten, welche in Wirklichkeit ziemlich wenig geteilt wurde. Die „Linke“ hat sich in bekannte territoriale Grenzen geflüchtet, die der Kritik mangels Einflussmöglichkeiten zugänglich sind.

Das Misstrauen der Völker und der sozialen und bürgerlichen Bewegungen gegenüber den multilateralen Institutionen, insbesondere der UNO, lässt sich weitgehend erklären: Bürokratisierung, Undurchsichtigkeit, Technisierung, das völlige Fehlen einer Rechenschaftspflicht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern und das Fehlen jeglicher Bemühungen, die internationalen Verhandlungen in den Ländern, den lokalen Gemeinschaften, mit den sozialen Akteuren und den diskriminierten Minderheiten zur Diskussion zu stellen, reichen als Rechtfertigung aus. Und sie haben außer dem Versprechen, dass die Ungleichheit noch viel schlimmer und die Kriege noch viel zahlreicher wären, wenn sie nicht seit 1948 präsent wären, kaum Ergebnisse vorzuweisen.

Die Wiederbelebung der multilateralen Frage

In Wirklichkeit ist der „Multilateralismus“ von oben von Paradoxien durchzogen: unwirksam im Hinblick auf die Schwere der Risiken und die Reichweite der Ungleichheiten, verwerflich, wenn er das Illegitime legalisiert (und umgekehrt), aber trotz allem fruchtbar in vielen Regelungsbereichen, z.B. im internationalen Umweltrecht, im humanitären Recht, in der (unverzichtbaren) Dokumentation nationaler und lokaler Menschenrechtssituationen und sogar in Beratungs- und Streitverfahren, z.B. beim Internationalen Seegerichtshof, beim Internationalen Gerichtshof, trotz seiner relativen Unsichtbarkeit…

Der Multilateralismus ist von Natur aus weder links noch rechts. Und er kann sowohl dem öffentlichen Interesse dienen, z. B. wenn er die Entstehung eines universellen Konsenses über neue Rechte fördert – so schwierig es auch sein mag, diese durchzusetzen -, als auch gegen dieses Interesse agieren. Dies ist der Fall, wenn der Allgemeine Rat des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO) sich nicht darauf einigen kann, die Vergabe von Zwangslizenzen an Unternehmen oder Regierungen im Süden zu akzeptieren, die medizinische Behandlungen herstellen könnten, welche für die öffentliche Gesundheit unverzichtbar sind.

Doch eines ist sicher: Es ist keine unabwendbare Fügung des Schicksals, dass es weniger demokratisch, brutaler oder weniger gerecht ist als das lokale oder nationale Leben. Bruno Latour sagt: Es gibt keine gemeinsame Welt außer der, die wir ständig produzieren, keine gemeinsamen Regeln außer denen, die wir wählen, ohne uns der Lähmung zu beugen, die uns von institutionellen oder politischen Figuren auferlegt wird, die zu ihrer Zeit vielleicht gültig waren, die wir aber ständig neu gestalten müssen.[1]

Wenn jedoch die Europäische Union das Monopol für sich beansprucht, suggeriert sie die Universalität und Zeitlosigkeit eines multilateralen Modells, in dem die wirtschaftliche und finanzielle Globalisierung Frieden und parlamentarische Demokratie zusammen mit Waren und Kapital verbreitet. Es vergeht kein G7- oder G20-Gipfel, auf dem die Welt nicht zur Erneuerung des Multilateralismus aufgerufen wird, ebenso wie die Führer der BRICS-Staaten, darunter Bolsonaro, Putin und Xi, auf ihren Gipfeltreffen regelmäßig erklären, dass sie sich eine Vertiefung und eine größere „Inklusivität“ wünschen.

Die OECD-Initiative zur Besteuerung multinationaler Unternehmen, die auf den ersten Blick lobenswert erscheint, da sie zur Festlegung eines Mindeststeuersatzes für die Giganten der Online-Wirtschaft führt, entspringt in Wirklichkeit dem Wunsch, die internationalen Verhandlungswege zu vereinfachen, ohne sich mit den langsamen Prozessen des kollektiven Dialogs und der Beratung zu belasten, und verkörpert diese fadenscheinige globale Demokratie: Die Entwicklungsländer wurden erst 2015 aufgefordert, die „BEPS“-Initiative (für ‚Base erosion and profit shifting‘)/G20 zu unterzeichnen, als der Rahmen der 15 Maßnahmen bereits zwischen den OECD-Ländern ausgehandelt und vereinbart war, mit dem G20, und um in seiner Umsetzung durch Maßnahmen der Steuerkooperation „geschult“ zu werden.

Diese Feststellungen bilden eine Einladung an die Linke und an unsere gesamten Bewegungen, die multilaterale Frage wiederzubeleben. Denn „ein anderer Multilateralismus ist möglich“. So wie wir wissen, dass sich kulturelle, soziale und politische Veränderungen weder von oben noch von außen durchsetzen lassen, so erfordert die globale Transformation die Vertiefung aller Formen der transnationalen Vergesellschaftung (auch der konfrontativen, solange sie friedlich bleiben), einschließlich – und sogar vor allem – derjenigen, die im Stillen, an den Rändern operieren. Sie geht auch aus der populären Eigenverantwortung sämtlicher Diskussionen und Verhandlungen hervor, die in den multilateralen Foren stattfinden: Viele dieser Institutionen, die aufgrund der kulturellen, ideologischen und demokratischen Verzerrungen, die sie schwächen, unvollkommen sind, leisten eine enorme Expertise und Regulierungsarbeit, die alle angehen sollte, insbesondere wenn die Bemühungen der Wirtschaft, unsere Entscheidungen zu konfiszieren, in Institutionen wie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Klimakonferenzen oder den Konferenzen über die biologische Vielfalt nicht nachlassen…

Gemeinsame Grundprinzipien für die Umgestaltung des internationalen Systems

In den letzten Jahren hat sich unter den sozialen und bürgerlichen Bewegungen eine Reihe von Vorschlägen konsolidiert, die auf einer gemeinsamen Analyse beruhen: Die Regierung der Welt wird heute vom Geld, den multinationalen Konzernen und den politischen Eliten gesteuert, die sie unterstützen und uns glauben machen wollen, dass sie dem Gemeinwohl dienen. 

Dies gilt insbesondere für den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation, und sowohl das Mandat als auch die Führung dieser Organisationen sind angesichts der menschlichen und ökologischen Herausforderungen völlig veraltet: Sie müssen auf den Prüfstand gestellt und zumindest als Sonderorganisationen mit den Vereinten Nationen verbunden werden, deren Statuten ausdrücklich ihre Unterordnung unter die Generalversammlung und die wichtigsten konventionellen und nicht konventionellen Instrumente des Völkerrechts (Charta der Vereinten Nationen und Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Pakte von 66, Kernkonventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), multilaterale Umweltabkommen, universelle Gesundheitsversorgung, Konventionen über die Rechte von Kindern, Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, usw.) vorsehen sollten. (z. B. Übereinkommen über die Rechte von Migranten und Menschen mit Behinderungen).

Auch wenn die UNO der legitime Rahmen für den Dialog und die Zusammenarbeit in der Welt bleibt, so ist ihre Reform unerlässlich, insbesondere die des Sicherheitsrats und des Kapitels 7 der UN-Charta, um das Vetorecht abzuschaffen, den Rat um ein System ständiger Sitze pro Region, aber rotierender Sitze pro Land zu erweitern, ein System der „Super“-Mehrheit (z. B. ¾) in Bezug auf friedenserhaltende Interventionen (die sich auf den Schutz der Bevölkerung und die Anwendung des humanitären Völkerrechts konzentrieren sollten) zu erdenken. Die Generalversammlung muss ihre Arbeitsweise demokratisieren, indem sie ihre Entscheidungsregeln weiterentwickelt und das Wort der Völker sowie der sozialen und bürgerliche Bewegungen, einschließlich der indigenen und Urvölker, anerkennt. Außerdem müssen wasserdichte Schutzmechanismen gegen den Einfluss der privaten Wirtschafts- und Finanzsphäre geschaffen werden: Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Entscheidungs- und Handlungsorgane muss zweifelsfrei gegeben sein. 

Das Verständnis der Verflechtung von sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Krisen hat es progressiven Intellektuellen sowie sozialen und bürgerlichen Bewegungen auch ermöglicht, sich auf einige gemeinsame Prinzipien für die Umgestaltung des internationalen Systems zu einigen, z. B.:

  • die Forderung nach einer wirtschaftlichen Umverteilung auf internationaler Ebene, sowohl durch Transfers zur Behebung und Vermeidung von Schäden als auch durch Steuergerechtigkeit,
  • eine zumindest kritische Perspektive gegenüber Marktmechanismen und Systemen, die auf dem Ausgleich von sozialen und ökologischen „Externalitäten“ beruhen,
  • die Bemühungen um weltweite Abrüstung und die Nichtverbreitung von Kernwaffen,
  • die demokratische Kontrolle und Verantwortlichkeit aller pluri- und multilateralen Verteidigungs- und friedenserhaltenden Operationen,
  • die Abkehr von fossilen Energien,
  • die absolute Heiligsprechung bestimmter Gemeingüter vor dem Markt und der Finanzialisierung (die beiden Pole, das Amazonasgebiet, die Grundwasserleiter und die Flüsse, um nur einige Beispiele zu nennen),
  • die Rechenschaftspflicht der privaten Wirtschaftsakteure in ihrer gesamten Produktionskette und Bindung aller öffentlichen Gelder an ihre Vorbildfunktion in Bezug auf die Achtung der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Rechte der Bevölkerung,
  • die Aktualisierung des internationalen normativen Rahmens nach dem Zweiten Weltkrieg, der den Status von Migranten, Flüchtlingen und Vertriebenen regelt und vielen Menschen im Exil Rechte und wirksame Unterstützung vorenthält. Dies bedeutet unter anderem, den Opfern von Verletzungen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Rechte Schutz und/oder einen völkerrechtlichen Status zu gewähren. 

Über den Staat hinaus

Diese Vorschläge haben indes einen gemeinsamen Nenner, sie berühren den dysfunktionalen Kern des internationalen Systems: das Festhalten, jenseits aller Reformen und Krisen, am Staat als seinem zentralen Faktum und die Undenkbarkeit seiner Überwindung.

Die Ideologie der staatlichen, selbstzentrierten Souveränität steht im Widerspruch zum Ziel der multilateralen Regulierung, die es erfordert, die Beziehung zu anderen und zu Interessen, die denen der Nation entgegenstehen könnten, zu bedenken. Und gleichzeitig hat das seit 1945 geschaffene Völkerrecht, das auch links als vorherrschende Referenz gilt, den Staat und seine Hegemonie, die im Recht nie nachgelassen hat, gefestigt.

Nun zwingen mehrere Phänomene zu einer Weiterentwicklung dieses Konzepts:

  • die Vielzahl der Akteure, die auf internationaler Ebene eine Rolle spielen, von großen multinationalen Unternehmen bis hin zu NGOs, und die Instrumente, die wie das Internet von vornherein global sind. Das Meinungsbild und die Mobilisierungen der Bevölkerung haben einen direkten Einfluss auf die öffentliche Entscheidung, wie bereits in den 1970er Jahren die Massenmobilisierungen gegen den Vietnamkrieg gezeigt haben. Dies gilt umso mehr heute, wo Themen wie die Bekämpfung des Klimawandels oder die Regulierung der Aktivitäten multinationaler Unternehmen unter dem Druck des kulturellen und sozialen Wandels und transnationaler Bürgerbewegungen auf die Tagesordnung getreten sind. Die Ortsgemeinden organisieren sich auch in transnationalen Netzwerken, um Einfluss auf die Formulierung der Regeln für die Verwaltung bestimmter Gemeingüter, z. B. Flüsse und Wälder, zu nehmen, und schlagen hybride Eigentums- und Regierungsregelungen vor, die die internationalen Verhandlungen und deren Ergebnisse direkt beeinflussen. 
  • Die funktionelle Verzahnung zwischen Prinzipien, die ebenfalls im Zentrum des Völkerrechts stehen, ist hinfällig: Das Prinzip der Souveränität und territorialen Integrität der Staaten und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung haben über die Entkolonialisierungsbewegung der 1960er und 1970er Jahre hinaus keinen Konsens gefunden. Viele Menschen auf allen Kontinenten stellen die Unantastbarkeit von Grenzen in Frage und zwingen uns, über den Staat hinaus über sub- oder supranationale Formen des „Regierens“ und der Regulierung nachzudenken. Dies gilt sowohl für die Souveränitätsansprüche bestimmter indigener Völker als auch für die Herausforderung, globale Gemeingüter zu schützen, die allein durch zwischenstaatliche Koordination nicht bewältigt werden können, wenn die Regierungen nicht selbst die Bedrohungen verursachen.
  • Die Kolonialfrage ist noch nicht gelöst. In Bezug auf die besetzten oder als „nicht-autonom“ bezeichneten Gebiete, da sie unter der Aufsicht einer externen souveränen Regierung stehen, setzt der Vierte Ausschuss der Generalversammlung, der sich seit 1961 damit befasst, seine Arbeit im Übrigen jedes Jahr fort. Die Beziehung zwischen dem Völkerrecht und der Kolonialfrage ist jedoch komplexer als die bloße Bestandsaufnahme der in den Texten nachvollziehbaren Regeln, welche die Forderungen der kolonisierten Völker unterstützen könnten. Denn seit der Neuzeit wurde das Völkerrecht als Instrument der Unterwerfung konstruiert, etwa durch die theoretischen Bemühungen, die Eroberungen in Amerika zu legitimieren, oder durch die Übertragung der Befugnis, Recht zu sprechen und anzuwenden, an die imperialen Handelsgesellschaften in den Handelsposten, die das zeitgenössische internationale Investitionsrecht vorwegnehmen.

Die westlichen Standards in Bezug auf Justiz und ihre kulturellen Vorstellungen haben sich auch über die internationalen Rechtsinstitutionen verbreitet, insbesondere die strafrechtlichen, die von den postkolonialen Eliten instrumentalisiert und angeeignet wurden. Auch wenn eine Reihe von Pflichten und Bedürfnissen sowohl der Täter als auch der Opfer universell sind, müssen die rechtlichen Antworten in den jeweiligen Kontexten und Geschichten, und keinesfalls losgelöst von den Gesellschaften, die sie betreffen, durchdacht werden. Die Erfahrungen der internationalen Strafgerichtshöfe in Jugoslawien und Ruanda zeigen die Grenzen einer internationalen Justiz auf, die tausende Kilometer von den Opfern entfernt tätig ist und nur über Verbrechen urteilen kann, an denen Staaten und ihre Beamten direkt beteiligt sind.

Die Zentralität des Staates sowie eine übergeordnete Perspektive, seine Sonderstellung und seine vorrangig strafrechtliche Natur, die mit den Nürnberger Prozessen geprägt wurden, sind jedoch noch immer kennzeichnend für das linke Denken, wenn es um die internationale Justiz geht.

Die Durchsetzung des Völkerrechts stärken

Einer der Wege zur Wiederbelebung des Multilateralismus besteht zunächst darin, ihn wieder an seinen angemessenen Platz zu rücken: Auf lokale Bedürfnisse sollten lokale Antworten (Subventionen, Schutzmaßnahmen…) gefunden werden, sobald diese nur geringfügige Auswirkungen jenseits der Grenze haben. Und es ist unsere Aufgabe, Formen der Gerichtsbarkeit für die Menschenrechte zu erfinden, die gleichzeitig wiedergutmachend, wirksam, lokal verankert und akzeptabel sind.

Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die transnationalen Wirtschaftsakteure außer Kontrolle geraten sind und das Modell der staatlichen Gerichtsbarkeit den Menschen-, Sozial- und Umweltrechten keine Materialität verleiht, sowohl aufgrund der Grenzen, die es setzt (Staatsangehörigkeit/Präsenz auf dem Territorium/direkte Auswirkungen auf die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung), als auch aufgrund der Möglichkeit für private Konzerne, ihre faktische Immunität zu organisieren, sowohl auf zivilrechtlicher als auch auf strafrechtlicher Ebene. Es ist offensichtlich ein sehr dynamisches Terrain des Wandels und der rechtlichen Innovation, denn die Rechtsstreitigkeiten häufen sich und zwingen die Richter, das Recht zu klären, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Kanada, Großbritannien und den Niederlanden. Die linken Akteure halten sich jedoch auf diesem doch strategisch wichtigen Gebiet zurück.

Schließlich hängt die Wirksamkeit des Völkerrechts fast ausschließlich von den Staaten ab, ob sie nun in Ausnahmefällen die Rechtsprechung internationaler Gerichte akzeptieren oder über inländische Gerichte für die Durchsetzung des Völkerrechts verantwortlich sind (so funktionieren die meisten völkerrechtlichen Abkommen).

Die Anrufung und Selbstanrufung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) könnte erleichtert werden, um das Völkerrecht angesichts der Nicht-Zusammenarbeit, des Raubbaus an Ökosystemen und Lebewesen oder der Verletzung der Rechte ihrer Bevölkerung durch bestimmte Staaten durchzusetzen. Dies würde es ermöglichen, Interpretationen vorzuschlagen, die für die Klärung des Rechts und der Verantwortung der Staaten im Falle von Verstößen nützlich sind. Die Anrufung des IGH erfolgt jedoch ausschließlich durch Staaten und in einigen Ausnahmefällen durch die Vereinten Nationen.

Die „Internationalisten“ (im weitesten Sinne) konzentrieren sich indes hauptsächlich auf die substantivischen normativen Entwicklungen und Transformationen, die sie als „verbindlich“ fordern, und vernachlässigen das Nachdenken über Prozesse und Verfahren, die die Anwendung dieses Rechts stärken können. Zwang entsteht nicht – oder sogar weniger als man denkt – ausschließlich durch die Einführung von Ad-hoc-Rechtssystemen mit entsprechenden Sanktionen, deren Umsetzung derzeit ohnehin das Monopol der Staaten bleibt.

Die Linke steht also vor einer großen intellektuellen und strategischen Aufgabe: einen Multilateralismus „der Massen“ und der Mengen zu erdenken und voranzutreiben.

Amélie Canonne hat Politikwissenschaft und Völkerrecht studiert und zwanzig Jahre lang als Kampagnenleiterin in Frankreich und international zu Themen im Zusammenhang mit Handel, Investitionen und multinationalen Unternehmen sowie zu Klima- und Umweltfragen gearbeitet. Sie war Generaldirektorin von Attac France und anschließend Präsidentin von CRID, einem Kollektiv von Vereinigungen für internationale Solidarität.

[1] Bruno Latour, „Il n’y a pas de monde commun : il faut le composer” in Multitudes 2011/2 (Nr. 45) https://www.cairn.info/revue-multitudes-2011-2-page-38.htm