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Die Nichtinanspruchnahme von Leistungen: eine globale Herausforderung
Mehr als zwei Jahre sind seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie vergangen. Damals reagierten die Regierungen rasch mit Transferleistungen, Arbeitslosenunterstützung und Sachleistungen für ihre Bürger*innen. Doch viele – in der Tat Millionen – gingen leer aus, obwohl sie Anspruch auf die angebotene Unterstützung hatten.
Dieses Phänomen ist in der Fachwelt als «Nichtinanspruchnahme» bekannt: eine Situation, in der anspruchsberechtigte Einzelpersonen oder Haushalte letztendlich nicht in den Genuss der ihnen von Rechts wegen zustehenden Ansprüche kommen. Mein jüngster Bericht an den UN-Menschenrechtsrat befasst sich eingehend mit diesem Thema .
Die Nichtinanspruchnahme ist kein Randthema. Bestehende Schätzungen des Anteils der Menschen, nicht in den Genuss der Sozialschutzmechanismen kommen, die ihnen helfen sollen, liegen vor allem für den globalen Norden vor – doch sie zeigen, dass die Nichtinanspruchnahme gewaltige Ausmasse annehmen kann.
Wie mein Bericht zeigt, liegt die Quote der Nichtinanspruchnahme für die meisten untersuchten Sozialschutzsysteme in der Europäischen Union bei über 40 %. Dies bedeutet, dass von zehn Personen, die Anspruch auf eine Sozialleistung haben, vier leer ausgehen. Und diese Zahlen liegen oft noch höher. Im Falle der slowakischen Regelung für materielle Bedürftigkeit beispielsweise erhalten nahezu 80 % der Anspruchsberechtigten die Leistung am Ende nicht. In Deutschland lag der Anteil der Nichtinanspruchnahme von bedarfsgeprüften Leistungen zwischen 2005 und 2014 bei über 50 %.
Die erdrückenden Kosten der Nichtinanspruchnahme
Solche hohen Quoten der Nichtinanspruchnahme beeinträchtigen das Potenzial des Sozialschutzes, Armut und Ungleichheit zu verringern, ernsthaft. Auch wenn die Regierungen Mittel für Mindestlohnregelungen oder andere Arten von Sozialschutzleistungen bereitstellen, wird ein Großteil dieser Mittel häufig nicht verwendet. In Frankreich beispielsweise werden 750 Millionen Euro pro Quartal für das «revenue de solidarité active» nicht ausgeschöpft. In Kanada bleiben jedes Jahr schätzungsweise 1 Milliarde Kanadische Dollar an Bundesmitteln ungenutzt, was größtenteils darauf zurückzuführen ist, die besonders armutsgefährdeten potenziellen Leistungsempfänger, darunter auch Angehörige der First Nations, die Leistungen nicht in Anspruch nehmen.
Dies ist eine enorme Verschwendung öffentlicher Mittel. Sie hat auch Folgen auf individueller Ebene, da sie das Haushaltseinkommen der Bedürftigsten verringert. Infolgedessen können die Betroffenen mit größerer Armut und Isolation, Ernährungsunsicherheit und Schwierigkeiten bei der Bezahlung grundlegender Güter und Dienstleistungen konfrontiert werden. Auch psychische Probleme, einschließlich erhöhter Angstzustände, können vermehrt auftreten. In Großbritannien wurde etwa festgestellt, dass die Ängste während der Pandemie bei denjenigen, die keinen Antrag auf Universal Credit stellten oder meinten, keinen Anspruch darauf zu haben, signifikant höher waren als im Durchschnitt der Bevölkerung.
Gleichzeitig zahlt die Gesellschaft als Ganzes einen hohen Preis dafür, dass sie den Sozialschutz nicht auf diejenigen ausrichtet, die ihn am dringendsten benötigen. Langfristig müssen die Regierungen und die Gesellschaften, für die sie verantwortlich sind, die Vernachlässigung gefährdeter Gruppen durch höhere Ausgaben für die Gesundheitsversorgung und für Programme zur Armutsbekämpfung ausgleichen. Eine britische Studie ergab, dass die öffentlichen Ausgaben um 4 Milliarden Pfund gesenkt werden könnten, wenn die Inanspruchnahme der staatlichen Pensionskredite auf 100 % erhöht würde.
Die Botschaft ist klar: Sozialschutz ist kein Kostenfaktor. Er ist eine Investition in die Gesundheit und das Wohlergehen der Gesellschaft, die sicherstellt, dass die Haushalte vor Schocks und Risiken geschützt sind, und ihnen den Zugang zu wichtigen Leistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung ermöglicht. Die Nichtinanspruchnahme stellt ein grosses Versäumnis der Sozialschutzsysteme dar, wenn es darum geht, jene Personen und Gruppen zu erreichen, die von zusätzlicher Unterstützung profitieren würden, um sich zu entfalten oder mitunter auch nur zu überleben.
Die Nichtinanspruchnahme stellt ein großes Versäumnis der Sozialschutzsysteme dar, wenn es darum geht, jene Personen und Gruppen zu erreichen, die von zusätzlicher Unterstützung profitieren würden, um sich zu entfalten oder manchmal auch nur zu überleben.
Konstruktionsfehler beim Sozialschutz
Um zu verstehen, warum so viele Millionen Menschen sich nicht in der Lage sehen, ihre Rechte wahrzunehmen, haben mein Team und ich eine Umfrage in 36 Ländern in allen Welt-regionen durchgeführt. Dabei baten wir Expert*innen und Wissenschaftler*innen, internationale Organisationen und UN-Gremien, Organisationen der Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen sowie die für die Gestaltung und Umsetzung des Sozialschutzes zuständigen Ministerien und Verwaltungen um ihre Einschätzung zu den Gründen für die Nichtinanspruchnahme.
Weltweit zeigen unsere Ergebnisse, dass «komplexe Antragsverfahren» – wie komplizierte Antragsformulare oder die Anforderung, unzähliger Dokumente einzureichen – als einer der Hauptgründe dafür angesehen werden, dass auch anspruchsberechtigte Personen die Sozialschutzsysteme nicht in Anspruch nehmen. Mangelnde Informationen sowohl zu den Leistungen selbst als auch zur Art der Beantragung sind ebenfalls wichtige Faktoren, die zur Nichtinanspruchnahme beitragen. Mit anderen Worten: Die öffentlichen Informationen sind nicht vorhanden, unzureichend oder mangelhaft, und die Menschen beantragen die Leistungen nicht, weil sie zu wenig darüber wissen.
Wir baten die Befragten auch um eine Einschätzung, warum Menschen, die diese anfänglichen Hürden überwinden und die notwendigen Schritte zur Beantragung von Sozialschutzleistungen unternehmen, letztendlich nicht davon profitieren.
Das erste große Hindernis, das genannt wurde, war der Mangel an öffentlichen Mittel für den Sozialschutz. In einigen Ländern erhalten Personen, die Anspruch auf Sozialschutzleistungen haben, diese nicht, weil aufgrund unzureichender öffentlicher Mittel nicht alle Antragsteller durch das System abgedeckt werden können. Im viel gepriesenen brasilianischen Programm Bolsa Familia wurde beispielsweise eine Obergrenze für die auf kommunaler Ebene verfügbaren öffentlichen Mittel festgelegt. Sobald das festgelegte Kontingent ausgeschöpft war, wurde Familien der Zugang zu dem Programm verweigert, was dazu führte, dass es nicht in Anspruch genommen wurde. Zu den weiteren Hindernissen gehörten physische und technische Barrieren, die den Einzelnen daran hindern, die Leistungen tatsächlich in Empfang zu nehmen (z. B. Transportprobleme, fehlende Bankkonten, fehlender Zugang zum Internet), sowie mangelnde oder unklare Rechtsbehelfsverfahren gegen eine ablehnende Verwaltungsentscheidung.
Nichtinanspruchnahme: Wer ist dafür verantwortlich?
Trotz der der weiten Verbreitung der Nichtinanspruchnahme bleibt die Verwendung des Begriffs weitgehend auf wissenschaftliche Kreise beschränkt. In der von uns durchgeführten Umfrage unter Organisationen, Sachverständigen und Regierungsbeamt*innen war weniger als die Hälfte der Befragten mit diesem Begriff vertraut. Andere Bezeichnungen für Situationen, in denen Menschen, die Anspruch auf Sozialschutzleistungen haben, diese nicht erhalten, lauten «Nichtteilhabe» oder «Nichteinbeziehung», «Ungerechtfertigte Verweigerung von Rechten und Ansprüchen» oder «Ausschluss von Sozialschutzleistungen oder -programmen».
Der Begriff der «Nichtinanspruchnahme» ist zwar prägnant und hat eine akademische Resonanz, kann aber auch irreführend sein. In der Tat impliziert «non-take-up» oder auch «non-recours» im Französischen, dass der Einzelne seine Rechte nicht in Anspruch nimmt. In gewisser Weise suggeriert der Begriff also, dass der fehlende Zugang zu den Sozialschutzsystemen eine bewusste Entscheidung ist, überträgt die Verantwortung dafür auf den Einzelnen.
Dies führt mich zur Frage nach der Verantwortlichkeit: Wer ist für die Bekämpfung der Nichtinanspruchnahme zuständig?
Mein Bericht konzentriert sich – vor allem anderen – auf die Pflichten des Staates. Daher schreibe ich:
«Das Recht auf soziale Sicherheit, so wie es vom Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte entwickelt wurde, hat sehr praktische Auswirkungen: Es beinhaltet auch die Pflicht, die Anspruchsberechtigten proaktiv über die ihnen zustehenden Leistungen zu informieren, die Antragsverfahren zu vereinfachen, die Programme ausreichend zu finanzieren, damit auch alle Anspruchsberechtigten von ihnen profitieren können, die Korruption bei der Erbringung von Dienstleistungen zu bekämpfen, den Antragstellern keine stigmatisierenden oder demütigenden Bedingungen aufzuerlegen und klare und zugängliche Rechtsmittelverfahren bereitzustellen, um Fehler der öffentlichen Verwaltungen zu korrigieren. Das Recht auf soziale Sicherheit erschöpft sich nicht mit der Bereitstellung von Sozialschutz auf dem Papier: Es muss sich in der Praxis in einer effektiven Absicherung und Inanspruchnahme der Rechte führen.»
Die Verantwortung für die Wirksamkeit, Effizienz und Gerechtigkeit der von ihnen konzipierten und angebotenen Sozialschutzprogramme liegt zwar letztlich bei den Regierungen, doch müssen sie natürlich mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft zusammenarbeiten, um diese Ziele zu erreichen. Anstatt sich abzuschirmen und sich lediglich von Technokrat*innen und Fachleuten beraten zu lassen, sollten die Regierungen von den Organisationen der Zivilgesellschaft und von den Menschen lernen, die selbst von Armut betroffen sind.
Menschen in Armut verfügen über wertvolles Wissen darüber, was funktioniert und was nicht. Wenn es darum geht, Rechte auf dem Papier auch in die Praxis umzusetzen, kann es sich die Welt nicht leisten, dieses Wissen zu ignorieren.
Oliver De Schutter, UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte